Darum reagieren Menschen in Krisen aggressiv

Darum reagieren Menschen in Krisen aggressiv
nationalgeographic.de: Klimawandel, politische Unruhen, Inflation, Krieg: Zahlreiche Krisen beunruhigen die Bevölkerung. Doch wieso reagieren einige mit Wut und Aggression darauf? Eine psychologische Einordnung.
Krisensituationen sind vor allem eins: beängstigend. Laut einer Studie von R + V stiegen die allgemeinen Ängste der Gesellschaft 2023 auf einen Höchstwert der letzten fünf Jahre an. An erster Stelle lag mit 65 Prozent die Angst vor zu teuren Lebenserhaltungskosten. Neu dazu kam 2023 die Angst vor einer Spaltung der Gesellschaft und dadurch resultierende Unruhen – mit 50 Prozent. Und Angst ist es, die schnell in Wut umschlagen kann. Das erklärt auch Dr. Joris Lammers, Professor für Politische Psychologie an der Uni Köln. „Unsicherheiten in der Gesellschaft lösen auch immer Unsicherheiten in jedem Einzelnen aus. Fragen wie „Was bedeutet das für mich persönlich?“, „Reicht das Geld?“, oder „Wie werde ich in Zukunft leben?“ spielen eine große Rolle. Die Unsicherheit gilt als der größte Auslöser für Wut und Aggression bei uns Menschen.“ Da Sicherheit eines der größten psychologischen Grundbedürfnisse sei, löse Unsicherheit in vielen eine starke Angst aus. Diese Angst gegen ein bestimmtes „Feindbild“ zu richten, das man klar benennen kann, falle vielen Leuten leichter als die Unwissenheit, so der Psychologe. Durch genau diese Feindbilder entstehe auch das Phänomen der Verschwörungstheorien. „So können Menschen die Probleme und dadurch die Unsicherheit erklären und sie klar benennen.“
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Auf der Suche nach Lösungen: Feindbilder vereinfachen die Komplexität der Realität
Noch dazu spiele das extreme Bedürfnis nach der Zugehörigkeit zu einer Gruppe eine Rolle. „Wir Menschen sind Gruppentiere, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist ebenfalls eines unserer Grundbedürfnisse. Dabei soll die eigene Gruppe immer besser sein als die andere“, so Dr. Lammers. Mit dem Wissen, dass es einen Feind gibt, der für alles verantwortlich ist, könne man die „feindliche“ Gruppe herab- und die eigene und damit auch sich selbst aufwerten. Ob dies mit Fakten oder mit Hetze passiere, sei dabei irrelevant. Weiter erklärt der Psychologe: „Die Wirklichkeit ist sehr komplex. Je mehr man diese Komplexität vereinfachen kann, indem man sich ein Feindbild sucht und diesem die Schuld an allen komplexen Fragen gibt, umso einfacher bekommt man selbst eine Lösung.“ Je größer das Problem, umso größer werde die Unsicherheit und umso mehr werde eine Erklärung benötigt. Gebe man beispielsweise Migrant*innen oder einer bestimmten Partei oder Person die Schuld, habe man diese automatisch abgegeben – und seine eigene Zugehörigkeitsgruppe als besser dargestellt, indem man sich der Verantwortung entziehe.
Die Schuld bei anderen zu suchen, statt bei sich selbst, sei immer einfacher. Der politische Psychologe erklärt, dass diese Form der Kommunikation in der Politik oft verwendet werde, von manchen Parteien mehr als von anderen. Dieses eigentlich menschliche Verhalten diene hier dazu, die eigene Gruppe zu stärken und sich interessant für potenzielle Wähler zu machen. So ordnet Ex-Präsident Donald Trump viele Probleme des Landes den Migrant*innen und der Migration in den USA zu. Damit ist nicht nur ein Schuldiger gefunden, er zieht so auch konservative Amerikaner auf seine Seite. Der eigene Standpunkt wird jedoch oft mit besonderer Härte beschützt, weshalb es nicht unüblich ist, dass dem erschaffenen Feindbild mit viel Wut und Aggression gegenübergetreten wird.
Soziale Medien als Sammelbecken für Wut und Aggression
Die sozialen Medien bilden dabei ein Sammelbecken für diese Wut und Aggression. Laut Dr. Lammers sei das nicht verwunderlich. Gerade im Internet sinke zusätzlich die Hemmschwelle des sozialen Miteinanders, eine soziale Enthemmung finde statt – schuld daran sei die Anonymität.
Laut der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg sind fast 80 Prozent aller Internet-User ab 14 Jahren schon einmal mit der sogenannten Hate Speech, zu Deutsch Hassreden, in Berührung gekommen. Der Begriff wird wie folgt definiert: „Hasspostings enthalten Äußerungen, die Einzelne oder Gruppen diskriminieren, zum Beispiel wegen ihrer Herkunft, Religion, ihrer sozialen Zugehörigkeit, wegen einer Behinderung oder wegen ihres Geschlechts. Ziel der sogenannten Hater ist es, Hass auszudrücken und zu verbreiten und Gruppen oder einzelne Personen abzuwerten. Die Täter versuchen, Gruppen oder Einzelne als weniger wert darzustellen.“ Weiter heißt es, dass zwar Meinungsfreiheit bestehe, jedoch gebe es klare Ausnahmen: Volksverhetzung, das Billigen von oder Aufrufen zu Straftaten, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Beleidigung, üble Nachrede oder Verleumdung.
In einem Interview mit dem mdr erklärt Immo Fritsche, Professor für Sozialpsychologie: „Wir haben viele historische Beispiele dafür, dass in Zeiten starker Intergruppenkonflikte so etwas wie Verrohung stattgefunden hat. Im Krieg beispielsweise, wo gegnerische Parteien abgewertet oder auch entmenschlicht werden. Das erleichtert den Konflikt und setzt sich auch auf der Alltagsebene fort.“ Was dann stattfindet, ist die sogenannten Dehumanisierung, die zwar gruppenstärkend wirkt, jedoch zu einer zwischenmenschlichen Abstumpfung führt und auch ein immer weiteres Entfernen von der ursprünglichen Thematik ist möglich… weiterlesen