Das würde der Energieboykott Russlands für uns bedeuten
Das würde der Energieboykott Russlands für uns bedeuten
focus.de: Sollte der Westen Energieimporte aus Russland wegen des Ukraine-Krieges einstellen? Die Bevölkerung ist dafür, aber in der Bundesregierung kursieren Schreckensszenarien. Was passiert wirklich, wenn wir ein Embargo auf Putins Öl und Gas erlassen?
Selten hat man einen Robert Habeck wissenschaftliche Expertise so deutlich abbügeln hören. Eine „abstrakte“ Rechnung habe die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina aufgestellt, sie spiegele „nicht die Wirklichkeit in Deutschland“ wider, sagte der Wirtschaftsminister der Grünen am Dienstag der letzten Woche. Rumms, das saß. Was war passiert? Die Leopoldina hatte in einer Stellungnahme erklärt, dass ein kurzfristiger Importstopp von russischem Gas und Öl für die deutsche Volkswirtschaft verkraftbar wäre. Ein Embargo gegen Moskau, so die Elitewissenschaftler, sei also machbar. Wenn man denn will.
Wieso verzichten wir also nicht auf die Energielieferungen aus dem Kreml? Ein solcher Importstopp hätte längst nicht nur symbolische Wirkung. Ein Embargo gegen Öl und Gas aus Russland hätte erhebliche Folgen für die Kriegskasse von Präsident Wladimir Putin. Nach einer Zählung der Denkfabrik „Centre for Research on Energy and Clean Air“ (Crea) hat die EU seit Kriegsbeginn am 24. Februar bis zum Montag knapp 12 Milliarden Euro für Öl, Kohle und Gas an russische Staatsfirmen überwiesen – ein Ende ist nicht in Sicht. Wirtschaftsexperten der Brüsseler Denkfabrik Bruegel gingen in einer Analyse von Anfang März davon aus, dass täglich insgesamt 660 Millionen Euro für Energie nach Moskau fließen.
Energieträger aus Russland loswerden, schnellstmöglich
Wer auf Energie aus Russland verzichtet, kann den Angriffskrieg in der Ukraine womöglich entscheidend abkürzen, so lautet das Argument. Und der Druck auf die Bundesregierung wächst in dieser Frage. Nicht nur der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi, auch EU-Partner wie Lettland und Polen üben mittlerweile heftige Kritik an der deutschen Haltung, den Energieimport weiterlaufen zu lassen. „Wir müssen die russischen fossilen Energieträger so schnell wie möglich loswerden“, sagte die finnische Premierministerin Sanna Marin am Freitag am Rande eines EU-Treffens im französischen Versailles.
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Pikant: Die deutsche Bevölkerung stimmt eher den EU-Partnern zu – und weniger der Bundesregierung. Nach dem am Freitag veröffentlichten ZDF-„Politbarometer“ sind 55 Prozent der Bundesbürger dafür, kein russisches Öl oder Gas mehr einzuführen, auch wenn es dann in Deutschland zu Versorgungsproblemen kommt. Oder wie es Ex-Bundespräsident Joachim Gauck am Mittwoch in der ARD formulierte: „Wir können auch einmal frieren für die Freiheit!“
Kein Strom im Kindergarten?
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) warnte mit drastischen Worten. Ein Stopp der Energieimporte hätte zur Folge, „dass wir keinen Strom und keine Wärme in ein paar Wochen mehr haben würden“, sagte Baerbock am Donnerstag bei einem Staatsbesuch im Kosovo. „Wie viele Tage würden wir denn aufrechterhalten können, dass Leute nicht mehr zur Arbeit fahren können, dass wir in Kindergärten keinen Strom mehr haben, dass wir Krankenhäuser nicht mehr wirklich am Laufen erhalten können?“
Ist das wirklich so? Gehen ohne russisches Öl und Gas in Deutschland schon bald die Lichter aus? Und was ist eigentlich mit der Wirtschaft?
„Wir kommen durch diesen Winter durch“
Prinzipiell gilt: Die Abhängigkeit Deutschlands von Energie aus dem Ausland ist gigantisch. Die Bundesrepublik muss nahezu 100 Prozent ihrer Gas- und Ölvorräte importieren. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts kommen die Hälfte der Gasimporte sowie ein Drittel der Ölimporte aus Russland. Grob gesagt bedeutet das: Wenn es ums Heizen geht und ums Tanken, geht ohne Russland nichts in Deutschland.
Doch die Ampelkoalition unternimmt erste Schritte, um die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. „Jeden Tag, ja jede Stunde verabschieden wir uns ein Stück weit von russischen Importen“, sagte Habeck der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Beim Gas etwa scheint die Versorgung gesichert – zumindest für diesen Winter. „Die Vorräte sind da“, erklärte Habeck am Freitag bei einem Besuch in Kiel. „Wir kommen durch diesen Winter durch, und zwar, weil wir seit Dezember angefangen haben, politisch zu handeln.“ Die Bundesregierung habe mit staatlichen Geldern und mit politischen Gesprächen dafür Sorge getragen, dass die Gasspeicher, die auf niedrigem Stand waren, nicht komplett leerlaufen. Der vergleichsweise warme Winter hat ebenfalls geholfen.
Die Sorge gilt also eher den nächsten Monaten als unmittelbar den nächsten Tagen. Was machen wir etwa im kommenden Winter, wenn aus Moskau kein Nachschub mehr kommt, um die jetzt leeren Speicher aufzufüllen?
Sehr schwierig, sehr teuer
Das russische Erdgas zu kompensieren, sei „besonders schwierig“, sagt Andreas Fischer, Experte für Klima und Energie am Institut für Deutschen Wirtschaft (IW) Köln, zu FOCUS Online. „Es ist kaum möglich, die russischen Lieferungen mit LNG etwa aus den USA zu ersetzen.“ Erst Anfang April hatte die Bundesregierung einen strategischen Kauf des LNG-Flüssiggases in Höhe von 1,5 Milliarden Euro getätigt. Die größten LNG-Produzenten sind die USA, Katar und Australien, aber bislang war das Flüssiggas dem russischen Erdgas preislich immer unterlegen: Der Transport per Pipelines aus dem Osten ist sehr viel günstiger als der Transport in Schiffen über den Ozean.
„Klar ist, dass ein sofortiger Stopp russischer Energielieferungen sehr teuer werden würde“, sagt Fischer daher. Im geringeren Ausmaß gilt das auch für Öl: Theoretisch ließen sich die russischen Lieferungen durch Bestellungen in Nordamerika oder im arabischen Raum ausgleichen – auch wenn noch unklar ist, wie viele Kapazitäten Deutschland dann abrufen könnte. Aber billiger wird es dadurch nicht, weil auch hier wieder der Seeweg die Pipelines ersetzen würde. Hinzu kommt, dass russisches Rohöl eine andere Beschaffenheit aufweist als das sogenannte Brent-Öl aus der Nordsee oder die US-Sorte WTI. Einige deutsche Raffinerien, etwa die für den Berliner Raum elementare PCK-Raffinerie im brandenburgischen Schwedt, müssten erst für viel Geld umgerüstet werden.
„Man muss es dann auch durchhalten“
Die gute Nachricht für Privathaushalte ist: Von eventuellen Engpässen bei Gas oder Öl wären sie zunächst nicht betroffen. „Bei einem Mangel an Erdgas wären zuerst die Großverbraucher wie etwa die chemische Industrie betroffen“, erklärt Fischer. „Die Versorgung von privaten Haushalten und sozialen Diensten gilt dagegen als geschützt und wird priorisiert.“ Im Umkehrschluss bedeutet das auch: Die größte Gefahr ist nicht, dass die Heizung in deutschen Wohnungen und Häusern kaltbleibt – die größte Gefahr ist die einer massiven wirtschaftlichen Rezession.
Bei einem Energie-Boykott erwarte er eine schwere Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit und Unternehmenszusammenbrüchen, sagte Habeck am Donnerstag. Man könne sagen, das sei einem der Frieden wert. „Aber man muss es dann auch durchhalten. Und wir reden hier nicht über drei Tage und auch nicht über drei Wochen, sondern – ich sage jetzt mal – über drei Jahre.“… weiterlesen