Ist der Amazonas noch zu retten?
Ist der Amazonas noch zu retten?
Ist der Amazonas noch zu retten? Wann Kippt der Amazonas? Und was ist zu tun, um dies zu verhindern!
„Wir dürfen keine einzige neue Erdöl- oder Erdgasquelle mehr erschließen, nirgendwo sonst auf der Welt und noch weniger in Amazonien. Andernfalls bringen wir den Planeten auf eine Flugbahn des Ökosystem-Selbstmords, des Umwelt-Selbstmords und sogar des menschlichen Selbstmords.“ Carlos Nobre
14 Fragen an den brasilianischen Klima- und Amazonasforscher Carlos Nobre.
Carlos Nobre ist renommierter brasilianischer Erdsystemwissenschaftler am Institut für fortgeschrittene Studien der Universität von São Paulo. Seit drei Jahrzehnten konzentriert sich seine Arbeit auf den Amazonas und seine Auswirkungen auf das Erdsystem. Nobre ist einer der beiden Vorsitzenden des aus über 240 Wissenschaftlern bestehenden internationalen Wissenschaftspanels für den Amazonas (SPA) / https://www.theamazonwewant.org.
Norbert Suchanek: Wie viel Prozent des Amazonas-Regenwaldes wurden insgesamt bereits abgeholzt?
Carlos Nobre: Im gesamten Amazonasgebiet, das ursprünglich rund 6,5 Millionen Quadratkilometer Wald umfasste, sind bereits etwas mehr als eine Million Quadratkilometer abgeholzt, etwa 18 Prozent. Weitere 17 Prozent sind in unterschiedlichen Stadien degradierte Flächen. Die meisten dieser entwaldeten und geschädigten Gebiete befinden sich im südlichen Amazonasgebiet, im Süden von Pará, in Mato Grosso, Rondônia, Acre, im Süden des Bundesstaates Amazonas sowie im südöstlichen Bolivien. Ein zweiter Entwaldungsbogen erstreckt sich entlang der Anden zwischen 400 und 1.300 Höhenmetern in Peru, Ecuador und Kolumbien.
Wie weit oder wie nah sind wir am „Point of no Return“ des Amazonas-Ökosystems? Wie ist der Kollaps Amazoniens noch zu verhindern?
Carlos Nobre: Tatsächlich ist Amazonien nicht mehr weit vom Punkt entfernt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Wir müssen die Abholzung, die Degradierung und die Brandrodungen sofort und am besten Gestern auf Null setzen. Wir brauchen ein Moratorium für diese Art von Landnutzungsänderung besonders im südlichen Amazonasgebiet, weil dieses kurz vor dem Zusammenbruch steht.
Die Trockenzeit ist in dieser zwei Millionen Quadratkilometer großen Region bereits vier bis fünf Wochen länger als in den vergangenen 40 Jahren. Und sie ist 2,5 Grad wärmer und 25 Prozent trockener: Weniger Regen und das über einen längeren Zeitraum. Diese Region ist heute eine Kohlenstoffquelle. Sie gibt mehr CO2 frei, als sie der Atmosphäre entzieht. Wenn wir also mit der globalen Erwärmung und der Zerstörung der Wälder fortfahren, werden wir diesen Punkt ohne Rückkehr in höchstens 20 bis 30 Jahren überschreiten. Deshalb ist es fundamental, die Entwaldung, Degradierung und Brandrodungen im Amazonasgebiet sofort zu beenden und mit der Wiederherstellung eines großen Teils dieser zwei Millionen abgeholzten und degradierten Quadratkilometer zu beginnen.
Laut seinem im Juni vorgelegten Amazonas-Schutzprogramms (PPCDAm) will Präsident Lula da Silva die „illegale“ Abholzung in Amazonien bis 2030 beenden. Reicht das aus, um den Kollaps zu verhindern?
Carlos Nobre: Brasilien und fast alle Amazonasländer haben während der COP 26 in Glasgow 2021 ein Abkommen unterzeichnet, dem sich bis heute insgesamt 134 Staaten angeschlossen haben, das die Abholzung aller Wälder weltweit bis 2030 auf Null bringen soll. Das muss unser wichtigstes Ziel sein. Obwohl der brasilianische Rechtsrahmen die Abholzung von 20 Prozent und mancherorts bis zu 50 Prozent im Amazonasgebiet zulässt, dürfen wir zum Schutz des Amazonasgebiets nicht mehr zwischen legal und illegal unterscheiden.
Die Regierungen der Amazonas-Länder, wie zum Beispiel Kolumbien, arbeiten daran, jegliche Entwaldung zu stoppen und dies sollte auch die Politik für Brasilien sein. Um den Planeten zu retten, den Klimawandel zu bekämpfen, die biologische Vielfalt zu schützen, darf es eine erlaubte Abholzung nicht mehr geben.
Brasiliens Amazonasschutzprogramm (PPCDAm) sieht auch die Ausweitung des „nachhaltigen“ Holzeinschlags in den Staatswäldern auf bis zu 5 Millionen Hektar vor. Macht dies Sinn?
Carlos Nobre: Wie ich schon sagte: wir haben in Amazonien fast die gleiche Fläche abgeholzt wie degradiert. Leider führt auch der „selektive“ Holzeinschlag zu einer enormen Degradierung der Regenwälder. Dies ist kein Weg für Amazonien. Die Region verfügt über ein enormes Potenzial zur Nutzung von Nichtholzprodukten des stehenden Waldes. Darin liegt das große wirtschaftliche Potenzial Amazoniens.
Ein Großteil im Amazonasgebiet ist sogenanntes öffentliches Land ohne Bestimmung (Terras públicas não destinadas). Was sollte die Regierung mit diesen Flächen tun?
Carlos Nobre: Tatsächlich gibt es eine enorme Fläche von öffentlichem Land ohne Bestimmung, auch „terras devolutas“ genannt, 560.000 Quadratkilometer (56 Millionen Hektar) Bundes- und Staatsland in Amazonien. Es ist sehr wichtig, dass die Regenwälder in diesen Gebieten erhalten bleiben und auf bereits gerodeten öffentlichen Flächen, eine Waldrestaurierung im großen Maßstab erfolgt.
Die „Gebiete noch ohne Bestimmung“ von Bund und Ländern sollten als Indigene Territorien demarkiert und zur Schaffung einer großen Anzahl von Naturschutzgebieten genutzt werden. Ein Teil davon sollte auch als hochproduktives Agroforstsystem einer neuen Bioökonomie des „stehenden Waldes“ dienen.
Die ersten beiden Lula-Regierungen waren für den Bau großer Wasserkraftprojekte wie den beiden Großstaudämmen am Madeira-Fluss und Belo Monte am Xingu in Amazonien verantwortlich. Setzt nun auch die neue Regierung Lula wieder auf Wasserkraft?
Carlos Nobre: Zweifellos besteht in Brasilien kein Bedarf mehr an Wasserkraftwerken zur Energieerzeugung. Erneuerbare Energieformen, vor allem Solar- und Windenergie haben ein enormes Potenzial und sind wirtschaftlich gesehen günstiger.
Weder große noch kleine Wasserkraftwerke machen Sinn im Amazonasgebiet. Warum? Denn diese unterbrechen die Flussläufe, verändern die gesamte Flußökologie, die sich über Millionen von Jahren entwickelt hat, und sind ein enormes Risiko für die Amazonas-Ökosysteme im Allgemeinen. Ich glaube nicht, dass Wasserkraftwerke in die Politik der dritten Regierung Lulas zurückkehren werden.
Wie bewerten Sie als Klimawissenschaftler die bestehenden Wasserkraftwerke im Amazonasgebiet? Welchen Beitrag leisten sie zum Klimaschutz? Oder umgekehrt: Heizen sie sogar das globale Klima an?
Carlos Nobre: Tatsächlich sammeln sich in den Stauseen der Wasserkraftwerke im Amazonasbecken organische Stoffe an, die nicht mehr in den Ozean transportiert werden, sondern am Boden der Stauseen unter Sauerstoffmangel verrotten. Daraus entsteht Methan, das aufsteigt. Methan ist als Treibhausgas um ein Vielfaches stärker als Kohlendioxid. Wasserkraftwerke mit großen Stauseen wie Belo Monte und Tucuruí sind deshalb nicht emissionsfrei. In Amazonien nutzt Wasserkraft daher nicht, um das globale Klima zu schützen und Emissionen zu reduzieren. Der Weg, den der gesamte Planet heute einschlagen muss, liegt in den erneuerbaren Energien Wind und Sonne.
Wie bewerten Sie die Öl- und Gasausbeutung im Amazonasgebiet? Sollte sie weitergehen und sogar so ausgebaut werden, wie beispielsweise der halbstaatliche brasilianische Energiekonzern Petrobras wünscht?
Carlos Nobre: Der Weltklimarat IPCC und die gesamte Wissenschaft fordern seit Jahrzehnten einen Stop von neuen Kohle-, Öl- und Erdgasförderungen. Wir müssen die Emissionen bis 2030 um 50 Prozent reduzieren und bis 2050 Netto-Null-Emissionen erreichen. 70 Prozent der weltweiten Emissionen entstehen durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe. Wir sind einem enormen klimatischen Risiko ausgesetzt. Hitzewellen in Europa, in den Vereinigten Staaten und in Asien.
Kein Zweifel: Wir dürfen keine einzige neue Erdöl- oder Erdgasquelle mehr erschließen, nirgendwo sonst auf der Welt und noch weniger in Amazonien. Andernfalls bringen wir den Planeten auf eine Flugbahn des Ökosystem-Selbstmords, des Umwelt-Selbstmords und sogar des Selbstmords der Menschheit.
Für den Amazonaswissenschaftler Philip Martin Fearnside ist die Asphaltierung der Bundesstraße BR-319 im Westen Amazoniens eine der größten Bedrohungen derzeit. Wie ist Ihre Bewertung?
Carlos Nobre: Ich Stimme voll und ganz mit Professor Philip Fearnside, einem der großen Amazonaswissenschaftler, überein. Die Asphaltierung der BR 319 wird ein großes Risiko mit sich bringen, nicht zuletzt, weil der Gouverneur des Bundesstaates Amazonas sagte, dass die Landesregierung nach der Asphaltierung Ost-West-Nebenstraßen bauen wird, die die BR 319 westlich des Amazonas kreuzen. Dies wird die Abholzung im Süden des Bundesstaates mit den noch größten intakten Regenwaldflächen explodieren lassen.
95 Prozent der Abholzung im Amazonasgebiet findet im Umkreis von 5,25 km auf beiden Straßenseiten statt. Daher ist eine nachhaltige Infrastruktur mit Straßen in dieser Regenwaldregion nicht möglich.
Gibt es Anzeichen dafür, dass Lula und seine Regierung dieses BR-319-Projekt abschließen oder aufgeben werden?
Carlos Nobre: Noch gibt es keine Entscheidung dazu. Ich hoffe jedoch wirklich, dass die Lula-Regierung nicht mit einer Infrastruktur voranschreitet, die zu einer Zunahme der Abholzung führt. Der Amazonas ist das größte Flusssystem der Welt. Nachhaltiger Transport auf den Flüssen, Boote mit Solar betriebenen Batterien. Das sollte der Weg für Amazonien sein.
Wie sehen Sie das Risiko der Produktion „nachhaltiger“ Biokraftstoffe durch dem Anbau von Zuckerrohr, Ölpalmen oder Soja und Mais im Amazonasgebiet?
Carlos Nobre: Logischerweise sollten wir unter keinen Umständen die Ausweitung der Biokraftstoffproduktion, sei es Bioethanol aus Zuckerrohr oder Mais, Biodiesel aus Palmöl oder Soja im Amazonasgebiet zulassen, da dies ein Vektor der Entwaldung ist. Biokraftstoffe können in geringem Umfang als Biokerosin in der Luftfahrt verwendet werden, aber sie sollten kein Treibstoff für alle sein. Und natürlich liegt das große Potenzial heute im „grünen“ Wasserstoff.
Thema Aufforstung. Ihr Projekt namens „Bögen der Waldwiederherstellung“ (Arcos da Restauração) hat das Ziel nicht weniger als 50 Millionen Hektar Amazonaswald wiederherzustellen?
Carlos Nobre: Um den Amazonas zu retten, ist es notwendig sowohl die Entwaldung als auch die Degradierung der Wälder zu beenden und gleichzeitig große Waldrestaurierungsprojekte zu beginnen. Insgesamt mehr als 20 Millionen Hektar Regenwald sind in Naturschutzgebieten, Indigenen Reservaten und den „terras devolutas“ schon abgeholzt.
Auf der COP 27 im vergangenen Jahr haben wir, das Wissenschaftspanel für den Amazonas, deshalb ein Projekt zur Wiederherstellung der abgeholzten Waldgebiete vor allem in den Regionen der beiden Abholzungsbögen ins Leben gerufen. Wir nennen es „Arcos da Restauração Florestal“ (Bögen der Waldwiederherstellung). Es geht um die Wiederherstellung des Regenwald hauptsächlich in der südlichen Amazonasregion vom Atlantik bis nach Bolivien. Wir müssen uns aber auch um den anderen Bogen der Entwaldung kümmern, der sich im Andenteil des Amazonasgebiets befindet, den besonders Arten reichen Regenwald in den Höhenlagen zwischen 400 und 1.300 Metern in Peru, Kolumbien und Ecuador. Dies ist eine Aufgabe aller Amazonasländer.
Der Bundesstaat Pará hat bereits sehr wichtige Waldrestaurierungsprojekte gestartet, und das Umweltministerium in Brasilia diskutiert derzeit größere Wiederaufforstungsprojekte. Auch die Finanzierung von Aufforstungen in Privatgebieten über den Kohlenstoffmarkt beginnt. Heute liegt der CO2-Marktpreis bereits bei 15 bis 20 Dollar pro Tonne. Der freiwillige CO2-Markt „REDD plus“ bringt damit bereits enorme Vorteile für diese Waldrestaurierungsprojekte. Nur um eine Zahl zu nennen: Ein Hektar Waldrestaurierung könnte beim heutigen CO2-Marktpreis bereits 200 bis 300 Dollar pro Jahr erzielen. Das ist das Zwei- bis Dreifache dessen, was die Viehzucht im Amazonasgebiet an Gewinn einbringt.
- REDD und REDD+ steht für „Reduction of Emissions from Deforestation and Forest Degradation“ und ist ein von der UN-Klimakonvention entwickelter Finanzierungsmechanismus zur Verringerung von Emissionen aus Entwaldung und Degradierung von Wäldern. Zu REDD+ gehören auch Wiederaufforstung und nachhaltige Waldbewirtschaftung. Anm. Red.
Was wünschen Sie sich als Ergebnis des Amazonas-Gipfels in Belém? Was sollten die Staatschefs der Amazonasstaaten entscheiden?
Carlos Nobre: Natürlich haben wir große positive Erwartungen an eine Vereinbarung beim Gipfel in Belém mit den Präsidenten der Amazonas-Länder, möglicherweise auch mit dem Präsidenten Frankreichs, Emmanuel Macron. Die Europäische Union wurde vor vielen Jahrzehnten gegründet und ist beispielsweise im Kampf gegen den Klimawandel die fortschrittlichste Staatenvereinigung der Welt.
Daher ist sehr wichtig, dass die acht Amazonasstaaten sowie Französisch-Guayana eine wichtige Einigung erzielen, wie der Bildung einer der EU gleichen Union der Amazonas-Länder zur Bekämpfung von Entwaldung, Degradierung, Landraub, Umwelt- und organisierter Kriminalität, illegalem Bergbau, Drogenhandel und illegaler Fischerei, da all dies im Amazonasgebiet in den vergangenen Jahren explodiert ist.
Was erhoffen Sie sich für Amazonien und Brasilien?
Carlos Nobre: Ich hoffe, dass sich die Amazonasländer auf eine neue ökonomische Ausrichtung in Amazonien – wie vom Wissenschaftspanel für den Amazonas vorgeschlagen – einigen werden: Eine neue „Bioökonomie“ von „stehenden Wäldern“ und frei fließenden Flüssen und der nachhaltigen Nutzung von Hunderten von Waldprodukten aus der Artenvielfalt des Amazonas. Das ist die Zukunft. Diese Bioökonomie wird die Wirtschaft der Amazonasstaaten und das Leben von Millionen von Menschen in Amazonien erheblich verbessern.
Vielen Dank für die Gelegenheit zu diesem Interview.
Gleichfalls vielen Dank!
Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Das Interview wurde gekürzt auch in „nd-aktuell“ vom 07.08.23 veröffentlicht
Norbert Suchanek ist Umwelt- und Wissenschaftsjournalist. Er wurde 1963 in Würzburg geboren. Zu Beginn seiner Karriere, in den 1980er und 1990er Jahren recherchierte er vor allem in Konfliktregionen wie Nordirland und Palästina. Später verlagerte er seinen Fokus auf Brasilien. Seit 2006 arbeitet er als freier Korrespondent in Rio de Janeiro. 2010 rief er zusammen mit Márcia das Internationale Uranium Film Festival ins Leben. Damals war der Atomunfall von Tschernobyl fast vergessen. Und die brasilianische Regierung hat mit dem Bau des dritten Atomkraftwerks und eines Atom-U-Bootes in Rio de Janeiro begonnen.