Lippenbekenntnisse zum Umweltschutz
Lippenbekenntnisse zum Umweltschutz
Brasiliens Amazonasgebiet brennt. Kandidaten Bolsonaro und Lula geben Engagement vor
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Im brasilianischen Amazonasgebiet hat die Zahl an Waldbränden in diesem Jahr wieder deutlich zugenommen. Das u. a. für die Waldüberwachung zuständige Nationale Weltraumforschungsinstitut (INPE) zählte vom 1. Januar bis 20. September dieses Jahres insgesamt 78.159 Brandherde in Amazonien. Das sind 52 Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2021.
Die großen Umweltschutzorganisationen wie »World Wide Fund For Nature« (WWF) und Greenpeace machen Brasiliens amtierenden rechten Präsidenten Jair Bolsonaro dafür verantwortlich. Die Waldbrände seien eine »angekündigte Tragödie«, sagte der brasilianische Greenpeace-Sprecher André Freitas in einer Stellungnahme am Montag. Die vierjährige Amtszeit von Bolsonaro bezeichnete er als eine der dunkelsten Zeiten für die Umwelt.
Eine Analyse der seit 1998 vom INPE geführten Waldbrandstatistik relativiert die Aussagen der Umweltschützer jedoch. So nahm im Wahljahr 2002, als Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) das erste Mal zum Präsidenten gewählt wurde, die Zahl der Feuersbrünste in Amazonien von 35.716 auf 93.862 Brandherde zu – ein Anstieg um 162 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In den Folgejahren erhöhte sich die Zahl der Waldbrände bis auf 145.124 innerhalb der ersten neun Monate 2005. Eine weitere deutliche Zunahme der Amazonasfeuer um 182 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum wurde – wiederum in einem Wahljahr – 2010 registriert, als Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff für die PT kandidierte. Damals brannte es an 87.039 Stellen im Regenwald.
Laut einem im August beim investigativen journalistischen Netzwerk Amazônia Real veröffentlichten Bericht ist für die Zunahme der Waldbrände in den ersten Monaten dieses Jahres insbesondere die Asphaltierung der Amazonasautobahn »BR-319« verantwortlich. Diese soll Porto Velho im Südwesten Amazoniens mit Manaus im Bundesstaat Amazonas verbinden. Am 28. Juli hatte die brasilianische Umweltbehörde IBAMA die vorläufige Genehmigung für die Asphaltierung des noch fehlenden mittleren Abschnitts der Strecke erteilt. Die von der Regierung in Brasilia durchgedrückte Baugenehmigung sei, so Amazonia Real, offensichtlich auch wahlpolitisch motiviert gewesen. Allerdings befürworten sowohl Bolsonaro als auch sein Herausforderer Lula die von Regenwaldschützern und Wissenschaftlern abgelehnte Fertigstellung der Bundesstraße, die einen der letzten großen Regenwaldblöcke im Herzen Amazoniens durchschneiden soll.
Trotzdem verspricht Lula in seinem Programm für die am 2. Oktober anstehende Präsidentenwahl die Bekämpfung illegalen Bergbaus, Brandrodung und Entwaldung sowie einen besseren Schutz des Amazonasregenwaldes. »Wir werden die Umweltkriminalität bekämpfen, die von Milizen, Landräubern, Holzfällern und gegen das Gesetz verstoßenden Wirtschaftsorganisationen gefördert wird. Unser Engagement gilt dem unerbittlichen Kampf gegen die illegale Entwaldung und die Förderung der Netto-Null-Entwaldung«, heißt es dort weiter. Brasilien habe »eine der größten Artenvielfalten des Planeten«.
Gleichzeitig verspricht Lula in seinem Wahlprogramm, Brasilien zu reindustrialisieren, die Agrarindustrie und die Erdölindustrie zu fördern, Bergbauaktivitäten zu stimulieren und die Infrastruktur – insbesondere den Straßenbau – »durch ein energisches, öffentliches Investitionsprogramm« auszubauen und zu modernisieren. Wie er diese Quadratur des Kreises schaffen will, darüber findet sich in der Schrift, die sich in den beiden Punkten kaum vom Wahlprogramm des amtierenden Präsidenten unterscheidet, nichts.
Auch Bolsonaro gibt vor, »entschieden und energisch gegen Umweltverbrechen vorgehen«, Waldbrände und illegale Abholzung bekämpfen sowie gleichzeitig Infrastruktur ausbauen und Industrie fördern zu wollen. Laut seinem Wahlprogramm werde eine weitere Regierung unter ihm »Umweltschutz mit einem fairem und nachhaltigen Wirtschaftswachstum für alle in Einklang bringen«. Was von den vollmundigen Versprechungen zu erwarten ist, wird sich wohl erst mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten im Januar 2023 zeigen.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Erstveröffentlichung erfolgte in „junge Welt“ vom 24.09.22