Pestizide: Kinder sind eine klare Risikogruppe

Pestizide: Kinder sind eine klare Risikogruppe
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Pestizide: „Kinder sind eine klare Risikogruppe“

Tobias Tscherrig für INFOsperber

Die Zusammenhänge zwischen dem Einsatz von Pestiziden und bestimmten Erkrankungen werden deutlicher. Besonders betroffen seien Kinder sowie Landwirtinnen und Landwirte. Das zeigt eine neue Studie des Nationalen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung aus Frankreich (INSERM).

Die neuen Erkenntnisse der staatlichen Forschungseinrichtung ergänzen eine acht Jahre alte INSERM-Studie aus dem Jahr 2013, die bisher – zumindest in Frankreich – bei der Thematik der gesundheitlichen Folgen von Pestiziden als Referenz galt.

Die Ergebnisse der am 30. Juni veröffentlichten Studie lassen sich rasch zusammenfassen: Der Zusammenhang zwischen dem Ausbruch von Krankheiten und dem Kontakt mit gewissen Pestiziden ist grösser als bisher gedacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass Krankheiten bei Menschen ausbrechen, die regelmässig Pestiziden ausgesetzt sind, ist grösser als bisher angenommen. Und auch die Liste der Krankheiten, die durch den Kontakt mit gewissen Pestiziden ausbrechen können, wurde erweitert.

Die Studie untersuchte allerdings «nur» die Folgen von Pestiziden, die in der Umwelt ausgebracht wurden und denen die Menschen direkt ausgesetzt sind. Pestizide in Lebensmitteln sind kein Thema.

Organophosphate: Aufmerksamkeitsstörungen und Lungenerkrankungen

Bereits in der Studie aus dem Jahr 2013 konnte das INSERM einen Zusammenhang zwischen der Belastung mit Pestiziden und dem Ausbruch von Parkinson, dem Non-Hodgkin-Lymphom und von Prostatakrebs nachweisen.

Die neue Studie liefert nun weitere Erkenntnisse, zum Beispiel bei den sogenannten Organophosphaten. Gemäss der aktuellen INSERM-Studie, kann diese Art von Pestiziden beim Menschen auch kognitive Beeinträchtigungen – also Aufmerksamkeitsstörungen – auslösen. Die Wirkung dieser Moleküle besteht darin, die Atmungsmechanismen von Insekten zu blockieren. Aber auch auf den Menschen können sie sich negativ auswirken. So habe sich eine neue Gruppe von Pathologien herausgebildet: die chronische Bronchitis und die chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Vor allem bei Landwirtinnen und Landwirten, die diesen Pestiziden ausgesetzt sind, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass eine dieser Erkrankungen ausbreche.

Zu den Organophosphaten gehören etwa das in den 1950-er Jahren entwickelte Diazinon oder auch Chlorpyrifos, das in Europa vor einigen Jahren verboten wurde, aber zum Beispiel in Frankreich beim Anbau von Spinat noch zugelassen ist. Auch das seit 2004 grundsätzlich verbotene Atrazin gehört dazu.

In der Schweiz sei «die grosse Mehrheit der Organophosphat-Insektizide vom Markt genommen worden», schreibt der Bundesrat im März 2020 als Antwort auf eine Frage des Zürcher EVP-Nationalrats Niklaus-Samuel Gugger. Allerdings noch nicht vollständig: «Das Verfahren zur Rücknahme von Dimethoat ist im Gange», so der Bundesrat.

Kinder als klare Risikogruppe

Wie die Autorinnen und Autoren der INSERM-Studie gegenüber französischen Medien betonen, habe sich eine Gruppe als besonders anfällig auf Pestizide erwiesen: Kinder liefen Gefahr, vier verschiedene Arten von Pathologien zu entwickeln und es gebe «eine starke Vermutung für einen Zusammenhang zwischen den Krankheiten und zwei Arten von Pestiziden.» Demnach können die angesprochenen Organophosphat-Pestizide bei Kindern eine Veränderung der motorischen, kognitiven und sensorischen Fähigkeiten verursachen.

Eine andere Familie von Pestiziden, die Pyrethroide, die vor allem von Privatpersonen zur Behandlung von Haustieren oder bei der Gartenarbeit eingesetzt werden, können gemäss den Studien-Erkenntnissen bei Kindern zudem Krebserkrankungen des zentralen Nervensystems sowie akute Leukämie verursachen. Seien ungeborene Kinder diesen Stoffen ausgesetzt, erhöhe sich das Risiko für die Entwicklung einer dieser Krankheiten.

Wie das Schweizerische Zentrum für angewandte Ökotoxikologie im Jahr 2017 schrieb, waren damals in der Schweiz «19 Pyrethroide als Pflanzenschutzmittel und/oder Biozide zugelassen, einige davon auch als Tierarzneimittel». Im März 2020 waren es gemäss Bundesrat noch sieben: «Die sieben zugelassenen synthetischen Pyrethroide werden derzeit überprüft. Es ist noch zu früh, um bekannt zu geben, wie die Ergebnisse aussehen werden und welche Konsequenzen sich daraus für die jeweiligen Zulassungen ergeben werden. Pyrethrum, ein natürliches Insektizid, das die Grundlage für die Entwicklung von synthetischen Pyrethroiden ist, die im ökologischen Landbau verwendet werden, ist ebenfalls zugelassen.»

Forscher sprechen keine Empfehlungen aus

Man müsse verstehen, dass «diese Pyrethroide, die angeblich weniger Schaden anrichten als die Organophosphate (…), in Wirklichkeit auch Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben», sagt Xavier Coumoul, Forscher an der Universität Paris und Mitautor der neuen INSERM-Studie in einem Interview.

Im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2013 habe man nun festgestellt, dass sich das Spektrum der Pathologien erweitert habe. Es gebe zwei weitere mögliche Krankheiten bei Erwachsenen, die Gefährdung der Kinder trete noch deutlicher zu Tage. Wenn man sich den entsprechenden Pestiziden aussetze, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, zu erkranken.

Damit zeigen die Resultate der neuen Studie einen noch deutlicheren Handlungsbedarf, als dies bereits 2013 der Fall war. Damals forderten die französischen Forscherinnen und Forscher eine Reduzierung des Pestizideinsatzes. Bei der neuen Studie haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dagegen auf konkrete Forderungen verzichtet. Sie wollen die Ergebnisse für sich sprechen lassen. Die Resultate seien eindeutig, man habe nun genügend Beweise für den Ernst der Lage. Die Krankheiten, die durch Pestizide ausgelöst werden können, seien von ernster Natur, es handele sich dabei nicht bloss um Erkältungen oder um Grippe.

«Auf dieser Grundlage – aber das ist nur eine persönliche Meinung – scheint es mir, dass die Behörden anerkennen müssen, dass die Landwirtschaft ein riskanter Beruf ist, dass es sich um eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit handelt und dass eine anreizorientiertere Politik zur Verringerung des Einsatzes von Pestiziden notwendig ist», sagt Xavier Coumoul.

Lasche Zulassungspraxis, unterschiedliche Bewertungsmethoden

Coumoul sieht zwei Handlungsansätze, um die Problematik der Pestizide zu entschärfen: mehr Schutz für Landwirtinnen und Landwirte während des Arbeitens – und die Änderung der Anbau-Methoden. Es sei möglich, biologisch zu wirtschaften. Allerdings gehe es nicht darum, Landwirtinnen und Landwirten ein schlechtes Gewissen zu machen. Schliesslich seien sie keine Chemikerinnen und Chemiker, zudem seien sie während Jahren dazu ermutigt worden, Pestizide einzusetzen um ihre Erträge zu steigern. Trotzdem könne man nicht einfach so weitermachen. Die Gefahr, die von diesen Pestiziden ausgehe, sei zu gross.

Ein weiteres Problem bei der Zulassung von Pestiziden sind auch die unterschiedlichen Bewertungsmethoden. Am Beispiel von Glyphosat: Die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) hat die chemische Verbindung auf der Grundlage von wissenschaftlicher Literatur bereits im Jahr 2015 als «wahrscheinlich krebserregend für den Menschen» eingestuft. Anders die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) oder das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR): Aufgrund von anderen Bewertungsmethoden (Tests an Zellen) stufen sie Glyphosat als nicht krebserregend ein. Die Fragen bleiben: Wer soll die toxikologischen Bewertungen von Produkten durchführen? Und mit welcher Methode?

Dazu kommt, dass es zum Beispiel für die EFSA die Sache des Herstellers eines Produkts ist, dessen Unbedenklichkeit zu beweisen. Da aber der Hersteller eines Pestizids oder Insektizids sein Produkt auf dem europäischem Markt verkaufen will, wird er alles Notwendige dafür tun, es auch verkaufen zu können. Wie das in der Realität abläuft, zeigte die Nichtregierungsorganisation «Corporate Europe Observatory» Anfang Juli: Sie untersuchte 53 von Industriellen eingereichte Studien, auf die sich die EFSA stützte, um die Zulassung von Glyphosat abzuwägen. Das ernüchternde Resultat: Von den 53 eingereichten Studien verletzten 34 wissenschaftliche Kriterien.

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