Selbstversorger werden: Ist das realistisch?
Selbstversorger werden: Ist das realistisch?
Viele Menschen träumen angesichts des Klimawandels und weiterer beunruhigender Phänomene davon, sich von der Gesellschaft, in der sie leben, unabhängig zu machen. Vollständige Autarkie ist dabei jedoch nicht mehr als dies: ein Traum der Gesellschaft zu entfliehen, der sich aber nicht gänzlich verwirklichen lässt. In viel zu vielen Bereichen sind wir ganz oder vollständig auf die Mitwirkung Dritter beziehungsweise die gesellschaftliche Arbeitsteilung angewiesen oder nutzen gesellschaftliche Infrastrukturen wie die Netzversorgung mit Strom, Internet und Wasser.
Wer also wirklich ernst machen will, mit einer nachhaltigen Lebensweise und sich dabei nicht auf den nachhaltigen Konsum allein verlassen will, der muss zunächst definieren, in welchen Bereichen eine größere Unabhängigkeit angestrebt werden soll. Schnell zeigt sich hier, dass beispielsweise die medizinische Versorgung oder die Produktion eigener Kleidung nicht nur den einzelnen, sondern auch motivierte Kommunen oder Wohnprojekte bzw. andere Kleingruppen überfordert. In den Fokus gerät deshalb immer wieder die Produktion eigener Nahrungsmittel.
Das Anbauen essbarer Pflanzen, die Tierhaltung und die Produktion eigener Lebensmittel erweist sich als weitaus realistischeres Ziel, als das Streben nach vollständiger Autarkie, sollte jedoch ebenfalls nicht unterschätzt werden. Selbst große Kommunen, die Landwirtschaft im größeren Rahmen betreiben können, kaufen in der Regel Nahrungsmittel, die zu schwer zu produzieren oder für das lokale Klima ungeeignet sind, zu. Dabei müssen sie häufig einen großen Teil ihres Tages für die Arbeit an der Selbstversorgung aufwenden, weshalb es sich bei einer solchen Entscheidung immer auch um eine Frage des gesamten Lebenswandels handelt.
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Akzeptiert man, dass eine vollständige Unabhängigkeit unrealistisch ist, bleiben noch immer viele Optionen, um den eigenen ökologischen Fußabdruck zu reduzieren. Die eigene Landwirtschaft bzw. ein effektiv für die Lebensmittelproduktion genutzter Garten können dabei leicht Erträge bringen, die zumindest den jährlichen Bedarf mehrerer Familienmitglieder an einigen Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln oder Obst und Gemüse decken können. Wir geben allen Interessierten im Folgenden einen kurzen Überblick darüber, welche Überlegungen anstehen, wenn man sich für einen nachhaltigeren Lebensstil als Selbstversorger entscheiden möchte.
Lokale Bedingungen
Die Realisierung von Selbstversorgungszielen hängt maßgeblich von Raum und Standort ab, da diese die Möglichkeiten des Anbaus und der Tierhaltung direkt beeinflussen.
Landfläche
Die für eine Selbstversorgung erforderliche Fläche variiert je nach den spezifischen Zielen, der Effizienz der Anbaumethoden und den lokalen Gegebenheiten. Generell wird eine Fläche von etwa 2000 Quadratmetern pro Person für eine weitgehend selbstständige Lebensmittelversorgung angenommen, wobei intensive Anbaumethoden wie Permakultur oder vertikale Landwirtschaft den Bedarf an Fläche reduzieren können. Eine sorgfältige Planung, die Fruchtfolge, Mischkultur und saisonale Anpflanzungen berücksichtigt, ist für die Maximierung des Ertrags entscheidend.
Klima
Das lokale Klima bestimmt, welche Pflanzenarten angebaut werden können und mit welchen Herausforderungen wie Schädlingen, Krankheiten oder extremen Wetterbedingungen gerechnet werden muss. Die Auswahl klimaangepasster Pflanzen und die Schaffung von Mikroklimata durch Windschutz, Schattierung oder den Einsatz von Gewächshäusern können das Spektrum der anbaubaren Pflanzen erweitern. Ein Gewächshaus lässt die Ernteerträge überproportional wachsen und ist mit den passenden Alu-Winkeln, Alu-Profilen oder Gestänge und einer durchsichtigen, aber robusten Folie relativ einfach und ohne großen Ressourceneinsatz selbst zu errichten.
Bodenqualität
Die Qualität des Bodens ist eine fundamentale Voraussetzung für den Pflanzenanbau. Unterschiede in der Bodenbeschaffenheit erfordern möglicherweise erhebliche Anstrengungen zur Bodenverbesserung. Eine Bodenanalyse kann Aufschluss über den Nährstoffgehalt und den pH-Wert geben, was wiederum die Auswahl geeigneter Bodenverbesserungsmaßnahmen und Pflanzenarten leitet. Kompostierung ist eine wirksame Methode, um die Bodenqualität zu erhöhen und organische Abfälle zu verwerten.
Wasserzugang
Die Verfügbarkeit von Wasser ist entscheidend für die Selbstversorgung. Techniken zur Sammlung und Speicherung von Regenwasser sowie effiziente Bewässerungsmethoden wie Tropfbewässerung sind wichtige Komponenten zur Sicherstellung einer nachhaltigen Wasserversorgung.
Infrastruktur
Die Zugänglichkeit des Landes und vorhandene Infrastrukturen wie Zäune, Wege und Lagermöglichkeiten spielen eine wesentliche Rolle für den Erfolg der Selbstversorgung. Einfacher Zugang für regelmäßige Pflege und Überwachung sowie adäquate Einrichtungen zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Aktivitäten sind unerlässlich.
Weitere wichtige Voraussetzungen
Die Fähigkeiten und das Wissen, die für eine erfolgreiche Selbstversorgung erforderlich sind, umfassen ein breites Spektrum an landwirtschaftlichen Kenntnissen und handwerklichem Geschick. Sie können zwar erlernt werden und als Praxiswissen sogar im learning by doing Verfahren angeeignet werden, aber Wissenslücken und ein Mangel an Erfahrung können sich unmittelbar in Ernteeinbußen widerspiegeln.
Landwirtschaftliche Kenntnisse
Ein tiefgreifendes Verständnis von Gartenbau und Tierhaltung ist für die Selbstversorgung daher von großem Vorteil. Dies beinhaltet Wissen über Bodenwissenschaft, Pflanzenphysiologie, Schädlings- und Krankheitsmanagement, Erntetechniken und die Grundlagen der Tierpflege. Die Fähigkeit, Pflanzen und Tiere effektiv zu versorgen, setzt umfangreiche Kenntnisse über ihre Bedürfnisse und die Fähigkeit voraus, auf wechselnde Umweltbedingungen und unvorhergesehene Probleme reagieren zu können.
Handwerkliches Geschick
Neben landwirtschaftlichen Fähigkeiten ist handwerkliches Geschick für die Selbstversorgung von großer Bedeutung. Dies umfasst die Fähigkeit, Werkzeuge und Ausrüstung zu warten und zu reparieren, Gebäude und Strukturen zu errichten und zu erhalten sowie Wasser- und Energieversorgungssysteme zu managen. Die Fähigkeit, Probleme kreativ zu lösen und mit den vorhandenen Ressourcen das Beste zu machen, ist oft erforderlich, um die Infrastruktur einer Selbstversorgungseinheit instand zu halten und zu verbessern.
Die Kombination aus landwirtschaftlichen Kenntnissen und handwerklichem Geschick bildet die Grundlage für eine erfolgreiche Selbstversorgung. Diese Fähigkeiten ermöglichen es, die direkte Umgebung effektiv zu nutzen, die Produktivität zu steigern und eine nachhaltige und resiliente Lebensweise zu fördern. Der Weg zur Selbstversorgung ist geprägt von Lernen durch Tun, wobei der kontinuierliche Wissenserwerb und die Anpassung an veränderte Bedingungen zentrale Elemente des Erfolgs sind.
Finanzielles und Engagement
Je nach Ausgangslage und nach angestrebtem Grad der Selbstversorgung müssen ein geeignetes Grundstück sowie Gebäude, Werkzeuge oder Infrastrukturmaßnahmen, wie eine Bewässerung, finanziert werden. Die nötigen Investitionssummen können dabei teilweise erheblich sein. Wer andererseits bereits über einen Garten und die nötigen Werkzeuge verfügt, kann fast ohne finanziellen Aufwand zum Selbstversorger werden. Handwerkliches Geschick und Einfallsreichtum können die Kosten ebenfalls stark senken.
Allerdings ist nebem dem möglichen finanziellen Aufwand auch an die nötige Arbeit zu denken. Einige Selbstversorger wenden fast jeden Tag mehr als 12 Stunden in der Pflanzen- und Tieraufzucht, bei der Ernte oder der Weiterverarbeitung ihrer Lebensmittel auf und selbst in Kommunen mit Arbeitsteilung handelt es sich bei den landwirtschaftlichen Tätigkeiten oft um Vollzeitstellen.
Wer andererseits nur die Erträge seines Gartens maximieren will und auf effiziente Anbaumethoden setzt, kann mit wenigen Stunden Arbeitszeit in der Woche einen großen Unterschied bei der Selbstversorgung mit Lebensmitteln erwirken. In Pflanz- oder Erntephasen kann der Arbeitsaufwand je nach Größe der bewirtschafteten Fläche aber auch hier deutlich höher ausfallen. Das Leben als – partieller – Selbstversorger sollte daher nicht zu stark romantisiert werden, damit Menschen, die den Schritt tatsächlich wagen, nicht mit unrealistischen Vorstellungen an das Projekt herangehen.
Annette Yatsun