Staudämme bedrohen Großkatzen
Staudämme bedrohen Großkatzen
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Wasserkraft gilt als saubere, klimafreundliche Energiequelle. Großkatzen wie Tiger und Jaguare, deren Lebensräume dafür überflutet wurden, würden dies sicher anders sehen. So zeigen neue Forschungsergebnisse, dass bestehende Stauseen den Verlust von mehr als einem Fünftel der weltweiten Tigerpopulation verursacht und den Lebensraum von Hunderten von Jaguaren vernichtet haben.
Derzeit sind mindestens 3700 Wasserkraftwerke geplant oder im Bau, viele davon in tropischen Waldregionen. Die negativen Auswirkungen von Staudämmen auf die Süßwasserbiodiversität sind bereits in zahlreichen Studien belegt. Die Folgen für terrestrische Tierarten wurden bisher von der Forschung vernachlässigt. Ana Filipa Palmeirim und Luke Gibson von der Southern University of Science and Technology (SUSTech) in Shenzhen (China), versuchen nun diese Forschungslücke zu schließen.
Im Fachjournal »Communications Biology« berichten sie über erste Ergebnisse. Danach wurden bis heute 421 Staudämme in Tigerregionen gebaut. Die Speicherseen setzten damit 13 750 Quadratkilometer Lebensraum der asiatischen Großkatze unter Wasser. Die beiden Forscher kalkulieren, dass allein dies zu einem Verlust von 729 Tigern führte, 20 bis 23 Prozent der weltweiten Population. Nicht ganz so heftig hat es den Jaguar bisher getroffen. 164 Großwasserkraftwerke überfluteten insgesamt 25 397 Quadratkilometer Wald- und Savannengebiete, in denen zuvor Lateinamerikas gefleckte Großkatze zu Hause war. Damit verloren den Berechnungen der beiden Forscher zufolge 915 Jaguare ihren Lebensraum, 0,53 Prozent der heutigen Gesamtpopulation von geschätzten 173 000 Tieren.
Trotz ihres Rufs als umweltfreundliche Energiequelle sei Wasserkraft eine der weltweit größten Ursachen für die Zerstörung von Lebensräumen, konstatieren die Autoren. Die überfluteten Flächen böten nur eingeschränkt Lebensraum für die Süßwasserfauna und seien für Landlebewesen gänzlich verloren. Der Einfluss der Wasserkraftwerke auf die Tierwelt sei aber noch größer, da zum Staudammbau noch der Bau notwendiger Infrastrukturen hinzukomme. »Erstens befinden sich Wasserkraftreservoirs zunehmend in abgelegenen Regionen, und ihr Bau erhöht den menschlichen Zugang zu diesen Naturgebieten erheblich, zum Beispiel durch den Bau von Straßen und Hochspannungsleitungen«, schreiben Palmeirim und Gibson. Das fragmentiere die Ökosysteme rund um die Stauseen und die Zugangsstraßen öffneten zudem vorher abgelegene Lebensräume für Jagd und Ressourcenausbeutung.
Nicht zuletzt stelle der Verlust der großen Raubkatzen auch eine Bedrohung für die betroffenen Waldökosysteme dar. Jaguare und Tiger kontrollierten die Population von Pflanzenfressern. Ohne die Raubtiere könnten diese überhand gewinnen und die natürliche Waldverjüngung behindern.
Palmeirim und Gibson befürchten schließlich, dass Lateinamerikas größte Raubkatze durch den neuen Boom von geplanten Großwasserkraftwerken in den kommenden Jahren erheblich stärker betroffen sein werde. Den Lebensräumen des Jaguars drohten insgesamt 429 neue Staudämme, die meisten davon in Brasilien.
In Gebieten der letzten überlebenden etwa 3200 bis 3500 Tiger wiederum seien 41 neue Wasserkraftprojekte geplant. Betroffen sei vor allem die Unterart der Sumatra-Tiger. Die in Asien geplanten Wasserkraftprojekte hätten nach Meinung der Forscher das Potenzial, die St. Petersburger Erklärung zum Schutz der Tiger zu unterminieren.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Erstveröffentlichung erfolgte in „nd-aktuell“ vom 04.02.22