Südafrikas Quälgeist der Gerechtigkeit ist tot

Südafrikas Quälgeist der Gerechtigkeit ist tot
Desmond Tutu Screenshot: Pressenza

Südafrikas Quälgeist der Gerechtigkeit ist tot

Desmond Tutu kämpfte gegen Apartheid und Rassismus – für Versöhnung und ein besseres Südafrika. Jetzt ist der Friedensnobelpreisträger und ehemalige Erzbischof vom Kapstadt im Alter von 90 Jahren gestorben.

April 1993. Südafrika ähnelt einem Pulverfass. Nach jahrzehntelanger Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung kündigte Präsident de Klerk 1990 zwar Reformen an: etliche politische Gefangene wie Nelson Mandela wurden freigelassen, ihre Parteien und Organisationen wieder erlaubt. Doch die Verhandlungen über eine neue Demokratie stocken. Dann wird der Politiker und Freiheitskämpfer Chris Hani von einem Rechtsradikalen ermordet. Das Land steht vor einem Bürgerkrieg. „Wir werden frei sein! Wir alle – schwarz und weiß zusammen!“, ruft Desmond Tutu auf der Beerdigung Hanis vor mehr als 100.000 Menschen. Die Menge wiederholt lautstark seine Worte.

Es waren schwierige Momente wie dieser in der Geschichte Südafrikas, in denen Desmond Tutu Stärke zeigte und unbeirrt seinen Idealen folgte: für eine Regenbogennation, für Frieden – gegen Gewalt.

Friedensnobelpreis für den gewaltlosen Kampf gegen die Apartheid

Ziele, für die Tutu sein gesamtes Leben lang kämpfte. 1931 kommt er in der Bergbaustadt Klerksdorp zur Welt und wird später Lehrer. Als die Regierung beschließt, schwarze Studenten im Ausbildungssystem schlechter zu stellen als weiße, kündigt er. Tutu schlägt eine theologische Laufbahn ein, wird erster schwarzer anglikanischer Bischof von Johannesburg und später Erzbischof von Kapstadt.

Politisch kämpft er dabei stets für die Aufhebung der Rassentrennung. Er sympathisiert offen mit den Zielen von Nelson Mandelas Partei, dem Afrikanischen Nationalkongress (ANC), der ein nicht-rassisches, demokratisches Südafrika aufbauen will. 1984 erhält Tutu für seinen gewaltlosen Einsatz gegen das Apartheidregime den Friedensnobelpreis.

„Ein unglaublicher Tag“

Doch viel wichtiger ist für ihn der April 1994, als er bei den ersten freien, demokratischen Wahlen Südafrikas seine Stimme abgibt. „Das ist ein unglaublicher Tag für alle Menschen hier“, ruft ein sichtlich glücklicher Tutu vor dem Wahllokal Pressevertretern und Landsleuten zu. „Und ich meine alle – schwarz und weiß. Ab sofort brauchen wir nicht mehr von einem illegalen Regime zu sprechen. Es wird unsere, eine von uns gewählte Regierung sein.“

Mit seiner fröhlichen, unbeschwerten und emotionalen Art, die er trotz des jahrelangen, oft frustrierenden Kampfes für Gerechtigkeit immer behalten hat, macht sich der Erzbischof bei weiten Teilen der Bevölkerung beliebt. Nach den Wahlen will er sich eigentlich nach Amerika zurückziehen, mehr Zeit mit seinen dort lebenden Enkeln verbringen. Doch eine große Aufgabe steht ihm noch bevor. Präsident Nelson Mandela bittet Tutu, die Wahrheits- und Versöhnungskommission zu leiten, die die Verbrechen der Apartheid aufarbeiten soll.

Plädoyers für Versöhnung und Vergebung

Tutu und die Kommission wollen einen Mittelweg zwischen Siegerjustiz und Amnestie finden und plädieren für Versöhnung und Vergebung. Innerhalb von drei Jahren schildern tausende Opfer ihr Leid, Täter bitten um Vergebung. Tutu in seiner violetten Robe kämpft häufig mit den Tränen, betont wieder und wieder, dass nicht er, sondern die Opfer im Mittelpunkt stehen.

Auch danach äußert sich Tutu weiter lautstark gegen Ungerechtigkeit in der Welt – gegen den Krieg im Irak, gegen autokratische Regime, auch in Südafrikas Nachbarschaft. „Er ist ein wütender, ja verbitterter kleiner Bischof“, ärgerte sich Simbabwes Machthaber Robert Mugabe einst über Tutus Äußerungen. Auch Südafrikas Regierungspartei ANC beobachtet Tutu weiter kritisch, wettert gegen deren Kontakte zu Mugabe, die zögerliche AIDS-Bekämpfung und gegen überbezahlte politische Eliten. Es sei keine Selbstverständlichkeit mehr, ANC zu wählen. „Die Leute stellen Fragen und das ist gut so. Genau darum geht es ja in einer Demokratie“, so Tutu, der sich selbst einmal als Quälgeist der Gerechtigkeit bezeichnete.

Rückzug ins Private nach Krebsdiagnose

1997 wird bei Desmond Tutu Prostata-Krebs diagnostiziert. Drei Jahre später, an seinem 79. Geburtstag, zieht er sich offiziell von allen öffentlichen Aufgaben zurück. Selbst diesen Schritt begründet er lächelnd mit seiner gewohnt positiven Art: Er möchte mehr Zeit haben, um mit seiner Frau Rooibostee zu trinken, sagt er damals.

So richtig zurücklehnen kann und will Tutu sich aber dann doch nicht: Er verfolgt weiterhin das politische Weltgeschehen, mischt sich ein. Im Jahr 2014 ruft er zu einem Boykott von Minengesellschaften und Ölfirmen auf: Der Klimawandel solle mit den gleichen Mitteln bekämpft werden, wie in den 1980er Jahren die Apartheid. Als leidenschaftlicher Unterstützer der Rechte Homosexueller sagt er, er würde lieber zur Hölle fahren, als einen homophoben Gott zu verehren. Seine eigene Tochter heiratet im Dezember 2015 in den Niederlanden eine Frau. Als Priesterin der anglikanischen Kirche Südafrikas darf sie danach nicht mehr arbeiten. Ihr Vater ist bei der zweiten Hochzeitsfeier in Südafrika im Mai 2016 dabei, gesundheitlich aber stark angeschlagen.

Seine Krebsbehandlung macht Desmond Tutu anfällig für hartnäckige Infektionen. In den vergangenen Jahren sorgte sich die Nation öfter um ihren „Arch“ – wie Tutu häufig genannt wurde, aber der Bürgerrechtsaktivist mischte sich auch weiterhin ein. So auch 2020 angesichts der Proteste gegen Rassismus in den USA: Es sei eine „unangenehme Wahrheit“, dass die Leben bestimmter Gesellschaftsgruppen als wertvoller erachtet würden als von anderen, ließ er durch seine Stiftung mitteilen. Tutus Kritik folgte auf den gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz in den USA.

Jetzt ist Desmond Tutu gestorben. Er wurde 90 Jahre alt.

Adrian Kriesch

Den Text schrieb der Autor als Beitrag für die Deutsche Welle. Wir publizieren ihn hier im Rahmen unserer Medienkooperation mit Pressenza.

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