Tschernobyl heute: Krieg, Rückbau, Strahlenlast
Tschernobyl heute: Krieg, Rückbau, Strahlenlast
ingenieur.de: Was genau passierte am 26. April 1986 in Tschernobyl? Wie haben deutsche Behörden damals reagiert? Wie steht es heute um Tschernobyl? Wie gefährlich ist die Strahlung weiterhin? Wir geben die Antworten.
Eine Minute, die alles veränderte: Um genau 1.23 Uhr am 26. April 1986 ereignete sich im Reaktorblock 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl das, was später als erster katastrophaler Reaktorunfall bezeichnet wurde. Der Reaktor explodierte nach einem missglückten Experiment, mindestens 50 Menschen starben unmittelbar nach der Katastrophe im Atomkraftwerk, Tausende erkrankten an der freigesetzten Strahlung: Die Schätzungen der Opfer schwanken zwischen 4.000 und 100.000. Hunderttausende Menschen wurden zwangsumgesiedelt, große Gebiete in der Ukraine, Weißrussland und Russland sind verstrahlt.
Bis heute ist ein Umkreis von 30 Kilometern um den Unfallort unbewohnbar, die Tier- und Pflanzenwelt hat sich jedoch zum Teil an die Gegebenheiten angepasst. Insbesondere vor dem Krieg in der Ukraine hat sich eine Art Katastrophentourismus entwickelt, obwohl vielerorts noch erhöhte Strahlenwerte gemessen werden. Inzwischen ist der Rückbau im Gange, der allerdings durch den russischen Angriff auf die Ukraine erschwert wird. Auch Corona trug dazu bei, dass die Stilllegungsarbeiten nicht wie geplant durchgeführt werden konnten. Wir blicken zurück, was genau im April 1986 geschah, wie die deutschen Behörden damals reagierten und wie es heute um Tschernobyl steht.
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Was genau ist am 26. April 1986 passiert?
Der bisher schwerste Unfall in der Geschichte der Kernenergie ist auf erhebliche Konstruktionsfehler des sowjetischen Reaktortyps RBMK und gravierende Mängel in der Sicherheitskultur zurückzuführen. Ein Reaktor geriet während der Erprobung der Notstromversorgung durch gravierende Bedienungsfehler der Besatzung außer Kontrolle und explodierte. Ein anhaltender Graphitbrand ließ tagelang große Mengen radioaktiver Stoffe durch das zerstörte Dach der Reaktorhalle in die Atmosphäre entweichen, von wo sie mit dem Wind bis nach West- und Nordeuropa getragen wurden.
Die Verantwortlichen hielten Informationen zurück, so dass das Betriebspersonal und die Bevölkerung unnötig hohen Strahlendosen ausgesetzt waren. Die Katastrophe von Tschernobyl wird auf der internationalen INES-Skala auf der höchsten Stufe eingestuft, gleichauf mit dem Unfall von Fukushima-Daiichi im Jahr 2011. Allerdings war die in Tschernobyl freigesetzte Radioaktivität rund zehnmal höher als in Japan.
Wie reagierten die deutschen Behörden 1986 auf die Atomkatastrophe?
Die sowjetischen Behörden meldeten den Unfall erst am 28. April, also zwei Tage nach der Katastrophe und nur weil Schweden und Finnland stark erhöhte Strahlungswerte gemessen hatten. Obwohl zu diesem Zeitpunkt wenig über das tatsächliche Ausmaß des Unfalls bekannt war, reagierte die Bundesregierung zurückhaltend. In einem Interview mit der Tagesschau versicherte der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann (CSU), dass eine Gefährdung der deutschen Bevölkerung „absolut auszuschließen“ sei und es keinen Grund zum Handeln gebe. Er betonte, dass eine Gefahr nur im Umkreis von 30 bis 50 Kilometern um den Reaktor bestehe.
In der DDR erfuhr die Bevölkerung zunächst nur über westliche Medien von dem Vorfall. Erst am 29. April erschien eine erste Kurzmeldung in einer Zeitung. Die DDR-Regierung versuchte aus Rücksicht auf den sozialistischen Bruderstaat, das Ausmaß der Katastrophe und mögliche Risiken herunterzuspielen.
Der Reaktorunfall kam für Ost- und Westdeutschland gleichermaßen unerwartet. In der Bundesrepublik gab es zu diesem Zeitpunkt weder eine Notfallplanung noch gesetzliche Grenzwertvorgaben oder offizielle Handlungsempfehlungen. Die Möglichkeit einer solchen Katastrophe wurde nicht für möglich gehalten oder nicht wahrhaben wollen.
Krieg erschwert den Rückbau
Kurz nach dem Unfall wurde über dem zerstörten Reaktor ein Sarkophag aus Stahl und Beton errichtet. Diese unter schwierigen Bedingungen errichtete Schutzhülle war ursprünglich nur für 30 Jahre ausgelegt. Deshalb wurde 2016 über den alten Sarkophag und den Reaktorblock das New Safe Confinement“, eine neue Schutzhülle, geschoben. Diese Hülle ist für eine Lebensdauer von 100 Jahren ausgelegt und soll bis 2065 den Rückbau des alten Sarkophags und des Reaktors ermöglichen.
Durch den Krieg und die vorangegangene Corona-Pandemie ist der Rückbau jedoch ins Stocken geraten. Nach der Besetzung des Kernkraftwerks Tschernobyl und der Sperrzone durch die russische Armee unmittelbar nach dem Angriff auf die Ukraine am 24. Februar bis Ende März 2022 wurden Anlagen und Ausrüstungen beschädigt oder gestohlen, darunter ein Labor zur Untersuchung radioaktiver Abfälle, Fahrzeuge, Dokumente und Computer… weiterlesen