Niedrige Energiepreise sind Wettbewerbsrisiko

Niedrige Energiepreise sind Wettbewerbsrisiko
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Niedrige Energiepreise sind Wettbewerbsrisiko

cicero.de: Seit Jahren lässt sich eine exponentielle Entwicklung bei den erneuerbaren Energien beobachten. Doch viele Entscheider wissen weder, wo wir heute stehen, noch, was neue Technologien bereits leisten können.

Mein Vater holt mich am Flughafen in Røros ab. An der Grenze zu Schweden, in der Region „Mittelnorwegen“, zwei Stunden südlich von Trondheim, liegt meine Heimat; eingekuschelt in eine der kältesten Regionen Norwegens mit nur 3.500 Einwohnern. Hier gibt es nur einen Flieger am Tag, und man kann die Ruhe förmlich hören. Mein Vater begrüßt mich mit einem breiten Grinsen. Er fährt sein neues E-Auto. „Man kann sogar mit dem Auto sprechen“, sagt er stolz. „Und das Beste“, fügt er hinzu: „Ich habe, seitdem ich das Auto besitze, nicht einmal fürs Laden gezahlt!“

Der Grund: Røros hat seit Monaten am Wochenende einen negativen Spotpreis pro Kilowattstunde (kWh) – vor Steuern und Netzgebühren. Vereinfacht ausgedrückt: Die Energie gibt es in meiner Heimat zum Minuspreis. Sie denken jetzt vielleicht, das liegt an der Schneeschmelze und am Siegeszug der erneuerbaren Energien? Tatsächlich gibt es in Røros zwar viel Schnee, aber keine idealen Bedingungen für Solar- und Windenergie, da es wenig Sonne gibt und die Rentiere der Urbevölkerung geschützt werden sollen.

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„Sie können in Europa die ganze Wind- und Sonnenenergie nicht nutzen“, erklärt mein Vater, der sich beim lokalen Energieversorger informiert hat. Ironischerweise stammt ein Teil des regionalen Strommixes aus Windenergie aus Schleswig-Holstein. Die Überproduktion an Offshore-Windenergie wird nach Norwegen transportiert, anstatt in den Süden Deutschlands, weil dort die Infrastruktur fehlt. Er zeigt mir stolz die App, die ab 10 Uhr Strompreise unter 0 Euro anzeigt, mit einem Tiefpunkt von minus 6 Cent pro kWh zwischen 14 und 15 Uhr.

Mein Vater ist dann allerdings überrascht, als ich ihm von einem neuen großen Risiko für Europas und Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit erzähle: von zu niedrigen Energiepreisen. Denn wenn selbst in Røros in Norwegen heute schon „kostenloser“ Strom verfügbar ist, welche Möglichkeiten gibt es dann erst in Regionen, wo häufiger die Sonne scheint und die Wege kürzer sind? 

Energie zum Nulltarif

Auf Klima-, Tech- und Leadership-Konferenzen frage ich die Gäste gerne nach ihrer Einschätzung, wie es in Deutschland um den Fortschritt beim Energieumbau bestellt ist. Ich beziehe mich auf eine Studie, die eine Hochrechnung auf etwa 40.000 Windräder (onshore) auf dem Land anstellt, um alle Privathaushalte mit Energie zu versorgen. Die Optimisten schätzen bis zu 5.000 Windräder. Das Handelsblatt schreibt: „Erneuerbare Energien: Deutschland muss bis Ende 2029 täglich sechs Windräder bauen.“ Und Experten erklären, warum gewisse Ziele kaum zu erreichen sind.

Ein großes Problem in Deutschland ist, dass wir viele Experten haben, aber weder wissen, wo wir aktuell stehen, noch, was die heutige Technologie bereits leisten kann. 1991 löste das Stromeinspeisungsgesetz eine kraftvolle Ausbauwelle von Windenergie in Deutschland aus. Deutschland stieg zur Weltspitze in Sachen Windkraft auf, und bereits nach sechs Jahren, 1997, waren mehr als 5.000 Anlagen in Betrieb. Heute bewegen wir uns in Richtung 31.000. Windräder – allein auf dem Land!

Die Technologie hat sich seit 1990 weiterentwickelt, und obwohl moderne Windräder mehr Platz benötigen, sind sie erheblich leistungsstärker als frühere Generationen. Hans-Josef Fell und Thure Traber schlussfolgern in einem Gastbeitrag für Klimareporter: „Wir brauchen keine weiteren Flächen und Windparks, wir müssen nur die vorhandenen ersetzen.“ Nicht die Zahl der Windanlagen ist also das Problem, sondern ihr Alter; also ihr technologischer Zustand und die damit verbundenen Speicher- und Distributionsmöglichkeiten. Laut Traber und Fell müssten bei einer vollständigen Versorgung Deutschlands mit 100 Prozent erneuerbaren Energien in allen Energiesektoren – Strom, Wärme, Verkehr, Industrie – bis 2030 etwa 24.000 Windkraftanlagen installiert sein. 

Deutschland hat also weder ein Flächen- noch ein unlösbares Technologieproblem , sondern eines der Umsetzung und des Verständnisses. Oder wie es der Geschäftsführer eines großen Solarbetreibers treffend formulierte: „Die Sonne hat gewonnen, sie ist da und gibt uns das 10.000-Fache an Energie, was benötigt wird. Wir müssen sie nur umsetzen.“ Dieses „Umsetzen“ bedeutet nun, die Energie zu speichern und zu verteilen. 

Die Sonne hat gewonnen

Am Wochenende lese ich in meiner Heimat eine typische Medien-Headline anno 2024: „Die große Enttäuschung über das Solardach.“ Die intuitive Reaktion vieler Menschen wäre nun wohl: „Ha, wusste ich es doch!“. Im Artikel folgt dann aber die eigentliche Nachricht. Die neuen Photovoltaikanlagen sind „zu“ effektiv. Der lokale Energieversorger hatte angeboten, die Überkapazität ins Netz zu speichern und den Kunden im Winter günstigen Strom zurückzugeben. Mit einem extrem sonnigen Mai ging die Rechnung für den Energieversorger jedoch nicht auf. So entsteht ein neues Problem, das dazu führen könnte, dass die Grundlage für große Energieversorger wegfällt – zugunsten dezentraler Lösungen. 

Daimler etwa plant durch Milliarden-Investitionen in Wind und Sonne bereits in zehn Jahren die Gesamtproduktion und den Betrieb durch eigene Energieerzeugung abzudecken. Doch wenn in zehn Jahren Einzelhandelskonzerne oder Industrieunternehmen wie Automobilhersteller Überkapazitäten haben, wohin geht diese Energie? Zu den Mitarbeitern? Zu den Einwohnern aus der Region? Zu den Kunden? Die weitere Herausforderung, die aus der fortschreitenden Dezentralisierung der Stromversorgung entstehen wird, wird nicht technologisch, sondern politisch sein. 

Anders formuliert: Schafft der Staat keine Anreize, etwa durch Subventionen, dass Unternehmen sich hierzulande zunehmend autark machen können, dann sinkt auch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit, weil anderswo entsprechende politische Maßnahmen existieren. Und angesichts der aktuellen Entwicklungen im Technologiesektor ist es bereits höchste Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, wie damit umzugehen ist. Denn nicht nur der Energiebedarf wird in den nächsten drei bis fünf Jahren rapide steigen, auch beim Ausbau, der Speicherung und Verteilung wird es weitere nennenswerte Fortschritte geben… weiterlesen

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