Das große Energiewende-ABC

Das große Energiewende-ABC
Das Gelingen der Energiewende ist vermutlich eine der schwierigsten und zugleich wichtigsten Herausforderungen, vor der die Menschheit jemals gestanden ist. Dass die Zeit drängt, die Aufgabe äußerst komplex ist und nur auf globaler Ebene gemeinsam lösbar sein wird, darüber sind sich Experten einig.
Jonas Puck, wissenschaftlicher Leiter des MBA Energy Management der WU Executive Academy, räumt im großen Energiewende-ABC mit den gängigsten Mythen zum Thema Energiewende auf und liefert mit jedem Buchstaben pointiertes Hintergrundwissen über wenig bekannte Zusammenhänge zu einem
der zentralsten Zukunftsthemen unseres Planeten.
A – Atomkraft-Argument:
Vielen Staaten klassifizieren Atomenergie heute als erneuerbare bzw. ‚grüne‘ Energie. Das stimmt allerdings so nicht. Atomenergie ist zwar weitestgehend CO2-emissionsfrei, aber nicht generell frei von Emissionen. Ganz im Gegenteil: Sie produziert atomaren Müll, der gelagert werden muss und – je nach
radioaktivem Element – eine Halbwertszeit von Jahrzehnten bis zu vielen Jahrmillionen hat. Wie wir durch die Zwischenfälle in Tschernobyl oder Fukushima oder durch die Kampfhandlungen in unmittelbarer Nähe des größten Atomkraftwerk Europas in Saporischschja in der Ukraine gesehen haben, ist Atomkraft darüber hinaus nicht vollständig kontrollierbar. Dies gilt zwar auch für praktisch alle anderen ‚Energiequellen‘, aber genau betrachtet ist die Häufigkeit von größeren Störungen oder Ausfällen bei vielen anderen ‚Quellen‘ sogar weitaus höher. Bei Atomkraft ist das Problem allerdings nicht die Wahrscheinlichkeit, sondern die mögliche Konsequenz eines Risikoeintritts – das Sperrgebiet rund um Tschernobyl ist hierfür ein Mahnmal. Ob Atomenergie daher eine sinnvolle Brückentechnologie ist, bis erneuerbare Energiequellen ausreichend entwickelt und zuverlässig sind, ist also nicht zuletzt eine Frage der Risikointerpretation der politischen Entscheidungsträger.
B – Batterie-Bedarf:
Eine der größten Herausforderungen für das Gelingen der Energiewende ist die Frage nach der effizienten Speichermöglichkeit von Energie (insbesondere Elektrizität), um Menschen auch dann mit Energie versorgen zu können, wenn diese gerade nicht ‚produziert‘ wird. Das ist vor allem bei erneuerbaren Energien ein großes Thema – drehen sich Windräder nicht oder scheint keine Sonne, wird auch kein Strom erzeugt. Aktuell kommt insbesondere Lithium-Batterien eine große Rolle bei der Lösung der Speicherproblematik zu. Die Crux an der Sache: Batterien benötigen bei der Herstellung seltene Erden. Und wie der Name schon impliziert, kommen sie im Vergleich zu anderen Rohstoffen nur selten vor. Was das Ganze wirtschaftspolitisch verkompliziert, ist die Tatsache, dass diese Erden global gesehen sehr ungleichmäßig verteilt sind: Mit einem Anteil von über 60 Prozent dominiert China die Herstellung der Metalle, geschätzte 44 Millionen Tonnen an Reserven liegen in China. Damit besitzt das Reich der Mitte doppelt so viel an Vorkommen im Vergleich zum Zweitplatzierten Vietnam. Wenn also seltene Erden das ‚Öl‘ des 21. Jahrhunderts werden, was bedeutet das dann für die geopolitische Machtverteilung?
C – Circular Economy-Chance:
Der Perpetuum-Mobile-Traum jedes Ökonomen: Eine Kreislaufwirtschaft, bei der man alle Ressourcen, die in das System hineinfließen, anderweitig wiederverwerten kann – ein endloser und per Definition nachhaltiger Kreislauf. Klingt gut, hat nur einen kleinen Haken, weil so ein System in der realen Welt nicht existiert – die Wissenschaft ist sich einig, dass diese Idee mindestens einem thermodynamischen Hauptsatz widerspricht. Allerdings: Wenn es gelingt, die Produktion und den Verbrauch so zu gestalten, dass bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden, dann wäre damit ein riesengroßer Schritt in Richtung Zero-CO2-Emissionen und erfolgreiche Energiewende geschafft – auch ohne Perpetuum Mobile einer 100-prozentig zirkulären Wirtschaft.
D – Digitalisierungs-Dilemma:
Innovation müsste doch zu mehr Energieeffizienz und somit zu einer besseren Energiebilanz beitragen. Das ist eine Annahme, die der Realität in Zeiten der Digitalisierung allerdings leider oft nicht standhält. Innovation führt nicht notwendigerweise dazu, dass wir weniger Energie verbrauchen. Laut einer Studie von Morgan Stanley ist etwa das Mining von Kryptowährungen sehr energieintensiv, wobei allein das Bitcoin-Mining die gleiche Menge an Strom benötigt wie die gesamte jährliche Stromerzeugung der Niederlande oder 0,5 Prozent des gesamten weltweiten Stromverbrauchs. Vor allem die immer intensivere weltweite Nutzung von KI sorgt dafür, dass nicht nur der Bedarf an Computern bzw. Rechenleistung exponentiell steigt, sondern gleichzeitig auch der Hunger nach seltenen Erden, die für die Erzeugung der Hardware benötigt werden. Zukünftig könnte genau das zu einem echten Show-Stopper beim ungehinderten Wachstum im Bereich der Digitalisierung werden, weil es zu wenig (verfügbare) Ressourcen gibt, die der rasanten Entwicklung standhalten. Das Ergebnis: ein weltweiter Verteilungskampf, den wir auch schon aus der jüngeren Geschichte sehr gut kennen.
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E – Elektromobilitäts-Euphorie:
Während Elektroautos keine CO2-Emissionen beim Fahren verursachen, ihr Motor weitaus effizienter ist als jener von Verbrennern, ist ihre Gesamtbilanz doch nicht 100% ‚grün‘: Der Abbau von Rohstoffen für Batterien und die Produktion der Fahrzeuge selbst verursachen erhebliche Emissionen. Zudem hängt der
Umweltnutzen eines Elektroautos stark davon ab, wie der für seinen Betrieb verwendete Strom erzeugt wird. Und: Wie sieht es mit dem Recycling der Autos und vor allem der Batterien aus? Hier gibt es bei den entsprechenden Recycling-Technologien noch erheblichen Nachholbedarf. Außerdem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob die Zukunft der Mobilität wirklich im Individualverkehr liegen kann und wie eine Substitution durch öffentlichen Verkehr sinnvoll erfolgen kann – auch im ländlichen Raum.
F – Finanzsektor-Funktion:
Der Finanzsektor spielt eine entscheidende Rolle bei der Finanzierung der Energiewende, denn die Wende benötigt erhebliche Investitionen. Für Investoren wird, das zeigen aktuelle Studien, die Nachhaltigkeit ihrer Investments immer wichtiger. Die Frage, ob und wie viel ein Investor in ein Energieprojekt investiert, hängt aber natürlich auch weiterhin zu einem erheblichen Teil von der finanziellen Attraktivität des Investments ab: Wie hoch ist mein Gewinn und mit welcher Wahrscheinlichkeit erhalte ich diesen? In zahlreichen Energiebereichen sind für viele Investoren aktuell Gewinnhöhe und Gewinnwahrscheinlichkeit zu gering. Das hat vielen Gründe, zum Beispiel sind neue Technologien natürlich regelmäßig mit einem höheren Risiko verbunden. Aber einige Aspekte sind auch sehr spezifisch für den Energiebereich. Die Energiepreise sind in den meisten Ländern vom Staat reguliert, damit sich auch Menschen mit geringem Einkommen Energie leisten können. Dies ist unumgänglich, um die Energiewende sozialverträglich zu
gestalten. Aus Sicht des Marktes sind diese regulierten Preise aber oft zu niedrig – Investitionen rechnen sich nur bedingt. Die Herausforderung wird es daher zukünftig sein, eine gesunde Mitte zwischen sozialer Verträglichkeit und unternehmerischer Attraktivität zu finden.
G – Grid-Grübeln:
Die Anpassung der Stromnetze (Grids) an die neuen Realitäten ist eine der großen Herausforderungen der Energiewende. Hier handelt es sich nicht nur um ein Problem von Entwicklungsländern, auch in Europa und vor allem in den USA sind erhebliche Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur notwendig. Interessanterweise beruht ein Teil dieser Herausforderung auf der verstärkten Einspeisung von Elektrizität aus erneuerbaren Energien. Das wiederum stellt Stromnetzanbieter vor große Herausforderungen, weil
Zeitpunkt und Intensität der Einspeisung nicht so gut kontrolliert werden können wie zum Beispiel bei Gaskraftwerken. So besteht schneller die Gefahr von Überlastungen und Netzausfällen. Zudem liegen die Orte der Einspeisung oft weit entfernt von den Stromverbrauchern. Da auch in vielen Industrienationen viele regionale, aber auch viele überregionale Netze nicht den neuesten Standards entsprechen und oft veraltet sind, besteht hier ein erheblicher Investitionsbedarf. Dies gilt umso mehr für weniger entwickelte
Nationen. So erzeugt eine gewollte und unbedingt notwendige Transformation auch außerhalb ihres Kernbereichs die Notwendigkeit zur Veränderung und Investition. Kurzfristig erzeugt dies zwar nicht unerhebliche Kosten, langfristig bedeutet es aber eine Verbesserung der Versorgungssicherheit. Zudem darf man nicht vergessen, dass aufgrund des Alters vieler Netze auch ohne Energietransformation erhebliche Investitionen notwendig gewesen wären.
H – Hydrogen (Wasserstoff)-Hoffnung:
Hydrogenium, also Wasserstoff, gilt für viele als vielversprechende Energiequelle. Dies gilt insbesondere für Sektoren, die schwer zu dekarbonisieren sind, wie etwa Teile der chemischen Industrie oder der Stahlproduktion. Allerdings sind sowohl die Herstellung von Wasserstoff als auch seine Lagerung und sein
Transport technisch und wirtschaftlich anspruchsvoll. Auch ist die Herstellung von Wasserstoff selbst sehr energieintensiv. Wasserstoff hilft jedoch aktuell sehr, die Emissionen besonders energieintensiver Prozesse zu reduzieren. Wirklich emissionsfrei ist nur grüner Wasserstoff, der aus erneuerbarer Energie erzeugt wird. Grauer Wasserstoff wird durch Aufspaltung von Erdgas gewonnen – hierbei entstehen CO2-Emissionen. Ob sich Wasserstoff als der große Gamechanger für die Energiewende durchsetzen wird, ist unter Experten umstritten: Die einen sind davon überzeugt, die anderen gehen davon aus, dass sich andere Technologien durchsetzen werden.
I – Internationale Zusammenarbeits-Initiative:
Die Bekämpfung des Klimawandels erfordert internationale Zusammenarbeit. Nur wenn eine große Zahl an Ländern ihren Teil dazu beitragen, können die globalen Klimaziele erreicht werden. Das zeigen zum Beispiel die Herausforderungen rund um die globale Regulierung von Emissionen. Länder mit sehr
strikter Regulierung sind für Unternehmen mit hohen Emissionen weniger attraktiv als Länder mit weniger strikten Regulierungen. Das liegt ganz einfach an den erhöhten Kosten der Produktion. Wenn es nun Länder mit weniger starker Regulierung gibt, bevorzugen emissions-intensive Unternehmen diese bei der Standortwahl, was zahlreiche Studien belegen. Anstelle von Investitionen in die Reduktion von Emissionen erzeugen Emissions-Regulierungen daher oft nur globale Produktionsverlagerungen bei gleichem
Emissionsvolumen – im Übrigen dasselbe Prinzip, das auch Steueroasen wie die britischen Jungferninseln, Bermuda, oder die Schweiz verfolgen: Sie profitieren zulasten anderer Länder. Deshalb ist gerade bei der Regulierung von Emissionen ein koordiniertes Miteinander im globalen Konzert unerlässlich.
J – Just Transition-Jonglieren:
Eines ist klar: Die Energiewende darf nicht auf Kosten der sozialen Gerechtigkeit gehen, deshalb ist auch das Konzept der „Just Transition“ von zentraler Bedeutung – „Just“ im Sinn des englischen „gerecht“. Der Übergang zu einer kohlenstoffärmeren Wirtschaft wird nicht nur technische, sondern auch soziale
Herausforderungen mit sich bringen. Wie können Arbeitsplätze etwa in fossilen Industrien erhalten oder umgewandelt werden? Was ist mit den Energiepreisen, die eigentlich oft viel zu niedrig sind, um ein Umdenken – vor allem in der westlichen Welt – zu bewirken? Wenn die Preise steigen, würde sich das wirtschaftliche Wachstum gerade in den weniger entwickelten Regionen der Erde deutlich verringern, was unfair ist, denn wir würden so jene am meisten bestrafen, die bis dato – historisch gesehen – am wenigsten zur Klimaerwärmung beigetragen haben. Daher ist sowohl innerhalb einzelner Länder als auch
im supranationalen Staatenverbund zentral, nicht nur die technischen Lösungen, sondern auch deren soziale Konsequenzen im Blick zu behalten. Nur so kann eine sozial ‚gerechte‘ Lösung gefunden werden.

K – Klimaschutz-Kommunikation:
Die Dringlichkeit und die komplexen Zusammenhänge des Klimawandels entsprechend zu vermitteln, ist eine zentrale Aufgabe. Eine wirksame Kommunikation ist daher ein wichtiger Schlüssel, um das Bewusstsein und die Akzeptanz für Klimaschutzmaßnahmen bei den Menschen zu erhöhen und den Einzelnen zu Verhaltensänderungen zu bewegen. Gerade was Verhaltensänderungen anbelangt kann durch klarere und besser koordinierte nationale und internationale Kampagnen viel erreicht werden: Wenn jedem Einzelnen bewusst wird, dass wir große Verbesserungen im CO2-Ausstoß schon durch kleine Verhaltensänderungen ohne einen erheblichen Wohlstandsverlust erreichen können, ist viel zu gewinnen. Kleine, aber konsequent beachtete Maßnahmen haben nämlich eine durchschlagende Wirkung: Auf regionale Produkte achten, bewusst einkaufen (1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel werden weltweit
weggeworfen, das ist ein Drittel der Gesamtproduktion – gleichzeitig ist die Landwirtschaft einer der weltweit größten CO2-Emittenten), Raumtemperatur im Winter um 2°C reduzieren, das Licht abdrehen und die Heiztemperatur reduzieren, wenn ich ins Bett gehe, etc. Diese Liste ließe sich beliebig fortführen. Was es dafür braucht: klare und überzeugende Argumente, verpackt in eine gute und koordinierte Kommunikation, die jeder versteht und die jeden erreicht.
L – Lebensstil-Lektionen:
Viele Studien belegen, dass bei steigendem Wohlstand auch die CO2-Emisssionen steigen. Das bedeutet auch, dass ein Großteil der Emissionen der Vergangenheit aus den Industrienationen stammt. Was wir in diesem Zusammenhang in der öffentlichen Diskussion außer Acht lassen, ist, dass Länder wie China, Indien oder Brasilien – obwohl sie aktuell enorm viel CO2 ausstoßen – nur einen geringen Anteil an der
Klimaerwärmung der letzten 100 Jahre haben. Ihnen jetzt anzukreiden, dass sie auch gerne den Wohlstand hätten, wie er seit Jahrzehnten im Westen üblich ist, erscheint also nicht fair. Was es bräuchte, ist eine clevere Strategie, die steigenden Lebensstandard von steigenden CO2-Emissionen entkoppelt bzw. den Zusammenhang zumindest deutlich abschwächt. Dies kann nur durch funktionierende internationale Zusammenarbeit funktionieren. Deshalb sind Vereinbarungen wie das Pariser Klima-Abkommen so wichtig, weil der Klimawandel nur gelingen kann, wenn die Welt größtmöglich koordiniert agiert.
M – Meeresenergie-Motive:
Die Nutzung der Energie aus Ozeanen und Meeren, etwa durch Wellen-, Gezeiten- oder Ozeanwärmekraftwerken, könnte einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Energiewende leisten, weil es hier zu starken energetischen Bewegungen kommt, die sich grundsätzlich gut zur Erzeugung von Elektrizität eignen. Allerdings stehen diese Technologien noch am Anfang ihrer Entwicklung und bringen auch Umwelt- und Naturschutzbedenken mit sich: Was bedeuten diese Anlagen für Flora und Fauna, was für die Anrainer und den Tourismus? Ein weiterer Aspekt: Die Energie entsteht dort, wo man sie nicht braucht – wie bekomme ich sie also möglichst ohne Verluste von den Ozeanen zu den Endverbrauchern? Trotz allem: Die Nutzung der Energie aus den Meeren und Ozeanen ist mit Sicherheit ein aussichtsreiches Entwicklungsfeld für die Zukunft.
N – Netto-Null-Nadelöhr:
Um die Erwärmung der Erde zu begrenzen, muss die Weltwirtschaft zügig netto null Emissionen erreichen. Dies ist eine enorme Herausforderung, die drastische Maßnahmen in allen Sektoren erfordert. Die angestrebten +1,5 °C über Vorindustrie-Niveau sind de facto nicht mehr zu erreichen, weil es kaum Länder gibt, deren Bemühungen nicht dramatisch gegenüber den vereinbarten Zielen hinterherhinken. Und es besteht die weitverbreitete Angst – vor allem seitens der Unternehmen -, dass steigende
Energiepreise einen dramatischen Wohlstands- und Wettbewerbsverlust mit sich brächten. Diese Sorge ist aber bei weitem nicht für alle produzierenden Unternehmen begründet: Abgesehen von energiereichen Betrieben wie etwa der Stahl- oder Zementindustrie machen die Energiekosten eines durchschnittlichen produzierenden Unternehmens lediglich ein bis drei Prozent der Gesamtkosten aus.
O – Ölpreis-Orakel:
Man würde annehmen, dass vor allem ein hoher Ölpreis dazu führt, dass Konsumenten eher auf erneuerbare Energien umsteigen. Das liegt daran, dass unter einem Hochpreis-Szenario Menschen nach alternativen und günstigeren Energiequellen suchen, um Kosten zu sparen. Hohe Ölpreise haben aber auch Schattenseiten. Öl- und Gaskonzerne gehören zu den größten Investoren in Renewables, weil sie langfristig neue Geschäftsmodelle entwickeln müssen. Diese Investitionen drohen sich zu verzögern oder
nehmen ab, solange das aktuelle Öl- und Gas Business erfolgreich ist. Trotz eines günstigen Preisszenarios findet der Wandel zu erneuerbaren Energien daher erheblich langsamer statt als man denken könnte.
P – Plastik-Problem:
Die Produktion und die Entsorgung von Kunststoffen tragen erheblich zum Klimawandel bei. Da Plastik zu einem Großteil aus Erdöl besteht, werden sowohl bei der Gewinnung des Rohstoffs, der Produktion, dem Transport, als auch beim nicht fachgerechten Recycling – etwa durch Lagerung auf Deponien (Methan) oder Verbrennen (CO2 und andere Schadstoffe) – Treibhausgase emittiert. Obwohl die Wiederverwendung und das Recycling von Kunststoffen helfen können, Emissionen zu reduzieren, sind diese Maßnahmen bisher nur begrenzt wirksam. Zudem gibt es weltweit völlig unterschiedliche Standards bzw. Herangehensweisen, wie mit Altplastik umgegangen wird: Während etwa in der EU die Recyclingrate für Kunststoffverpackungsabfälle im Schnitt knapp über 42 Prozent liegt, sind es in den USA lediglich 9 Prozent. Schlusslichter bei diesem Thema sind einige afrikanische und asiatische Länder, in denen es wenig bzw. keine Infrastruktur für Abfallmanagement gibt. Laut internationaler Studien stammen über 90 Prozent des Plastikmülls in den Ozeanen aus nur zehn Flüssen: Yangtze, Indus, Gelber Fluss, Haihe, Nil, Ganges, Perlfluss, Amur, Niger und Mekong. Die größten „Plastik-Müllstrudel“ befinden sich in den fünf großen Ozeanwirbeln im Nordatlantik, Südatlantik, Nordpazifik, Südpazifik und im Indischen Ozean. Der bekannteste und größte dieser Strudel ist der „Great Pacific Garbage Patch“ (Großer Pazifik-Müllfleck) im Nordpazifik zwischen Hawaii und Kalifornien, der flächenmäßig in etwa so groß wie Frankreich ist.
Q – Quoten-Querelen:
Schüler lernen früh, dass Quote und absolute Menge in der Praxis ein großer Unterschied sein können, bzw. der eine Wert ohne den anderen oft nicht aussagekräftig ist. Und genauso verhält es sich auch bei der Darstellung des Anteils an fossiler Energie am Gesamtportfolio: Wenn also ein Land stolz behauptet, dass in seinem Energieportfolio die Quote der fossilen Energie um 15 Prozent gesunken ist, dann bedeutet das nicht zwangsläufig, dass die absolute verbrauchte Menge an fossiler Energie zurückgegangen ist. Vielmehr geht die verringerte Quote an fossiler Energie gerade in Wachstumsregionen oft mit einem erheblich erhöhten Gesamtenergiebedarf einher. So täuscht die gute Nachricht u.U. darüber hinweg, dass die absolute Menge an ausgestoßenem CO2 vielleicht nur deutlich weniger, oder sogar gar nicht gesunken ist.
R – Rebound-Reaktion:
Es gab sie schon zu Zeiten Thomas Edisons, als die Menschen die Glühbirne intensiver nutzten, als es eigentlich nötig gewesen wäre. Effizienzsteigerungen bewirken in der Regel eine Senkung der Verbraucherpreise. Die Rebound-Reaktion (oder Bumerang-Effekt) besagt: Sobald wir eine günstigere Energiequelle nutzen und dabei Energie und auch Geld sparen können, tendieren wir dazu, mehr davon zu verbrauchen und den Spareffekt damit teilweise aufzuheben. Ein einfaches Beispiel: Man kauft ein sparsames Auto und fährt damit ab sofort auch kurze Wege. Aber auch makroökonomisch wirkt der
Effekt. Die Energieersparnis der einen Konsumenten kann den Energiepreis senken und dadurch zu höherem Verbrauch bei anderen Konsumenten führen. Eine indirekte Rebound-Reaktion wäre, das durch Energieeffizienz gesparte Geld in anderen Bereichen auszugeben, die wiederum mehr Energie verbrauchen. Auch bei der Entwicklung von Produkten kommt die Rebound-Reaktion zum Tragen: Flachbildfernseher sind zwar energiesparender als Röhrenfernseher. Da die Kunden aber immer größere Bildschirme kaufen, steigt der Stromverbrauch durch TV-Nutzung trotz allem jedes Jahr.
S – Speicher-Spagat:
Bei einem Gas- oder Atomkraftwerk ist es beispielsweise möglich, den Output an Energie zu steuern. Das ist bei Wind-, Wasser- oder Solarenergie weitaus schwieriger. An stürmischen und zugleich sonnigen Tagen laden Ökostromkraftwerke sehr viel Strom in die Netze – der Strompreis sinkt oft in den Minusbereich, ein Systemkollaps kann drohen. Der paradoxe Effekt: Der betroffene Netzbetreiber muss seinen Abnehmern Geld bezahlen, damit er den Überschuss an Strom loswird. Ein Beispiel: An sehr windigen Tagen speisen in Deutschland Windräder so viel zusätzlichen Strom ins Netz ein, dass
Deutschland gezwungen ist, etwa Österreich Geld dafür zu bezahlen, damit es jene überschüssigen Kapazitäten abnimmt, die die Stabilität des deutschen Netzes sonst gefährden würden. Die Österreicher wiederum verwenden diesen zusätzlichen Strom, um via Pumpspeicherkraftwerken Wasser in gebirgige Stauseen zur Energiespeicherung zu pumpen, um es dann abzulassen, wenn der Strom in Österreich wieder benötigt wird. Eine große Herausforderung in der Zukunft wird es daher sein, effiziente Möglichkeiten zur Energiespeicherung zu entwickeln, um dieses Problem zu lösen.
T – Tipping-Point-Tragödie:
Die Tipping-Points, oder Kipppunkte, des Klimasystems beschäftigen schon seit längerem nicht mehr nur Klimaexperten, sondern tauchen in der öffentlichen Diskussion immer öfter auf. Das hat einen guten Grund: Zwar sind die Tipping-Points laut Definition des Weltklimarats IPCC nicht etwa Punkte, ab denen das Klima (wie oft fälschlicherweise behauptet) tatsächlich unumkehrbar „kippt“, sondern ab einem gewissen Punkt geht das (Klima-)System von selbst in einen ganz anderen Zustand über. Wir sprechen also von abrupten, sich negativ verstärkenden Klimaeffekten, die unumkehrbar sein können, aber nicht müssen. Eine weitere Besonderheit dieser Kipppunkte ist ihr Domino-Effekt: Kipppunkte, die sich gegenseitig wie Dominosteine umwerfen. Kippt ein Teilsystem, folgen weitere. Das Ende der Atlantikzirkulation, das Abschmelzen der Pole oder das Auftauen der Permafrostböden sind Beispiele für solche Tipping Points.
U – Urbanisierung-Utopie:
Die Urbanisierung, also das Wachstum von Städten, bringt sowohl Herausforderungen als auch Chancen für den Klimaschutz mit sich. Städte sind Hotspots von Emissionen, aber sie können auch Vorreiter bei der Energiewende sein, zum Beispiel durch grüne Gebäude, effiziente Infrastrukturen (Nahverkehr) und nachhaltige Mobilität, etwa beim Car- oder Fahrrad-Sharing. Allerdings sind die grünen Lungen und Naherholungsgebiete in der Regel etwas außerhalb der Stadt. Gerade das Thema Regionalität, das für das Gelingen der Energiewende eine zentrale Rolle spielt, wird im urbanen Raum besonders evident: Nachhaltige Landwirtschaft, die eine Großstadt wie Wien versorgen könnte, findet außerhalb von Städten statt. Somit kann Urbanisierung nur ein gangbarer Weg in Richtung Zero-CO2-Emissionen sein, wenn es gelingt, die regionale (Nahrungsmittel-) Versorgung mit der Urbanisierung in Einklang zu bringen. Genau hier sind innovative Ansätze, die das Potential zu einem echten Gamechanger haben, so wichtig.
V – Vogelschlag-Verarsche:
Windräder spielen in vielen Regionen der Erde eine wichtige Rolle im Portfolio der erneuerbaren Energien. Zugleich stehen sie aber auch aus ökologischen und gesellschaftlichen Gründen vermehrt in der Kritik. In Deutschland etwa hält sich das Thema Vogelschlag durch Windräder hartnäckig in den Medien: Angeblich fallen Unmengen an Singvögeln den Windrädern zum Opfer. Aktuelle Studien rücken dieses sehr emotional aufgeladene Thema wieder ein bisschen ins rechte Licht: Würde man an allen Stellen, wo es theoretisch in Deutschland möglich wäre, Windräder aufstellen (was in etwa 90% bedeuten würde), würde die Menge an durch Windräder getöteter Vögel lediglich 1% jenes Vogelschlags, oder besser „Vogelrisses“ ausmachen, der jedes Jahr durch Hauskatzen verursacht wird. Natürlich ist jedes einzelne Leben wertvoll und muss geschützt werden, das Ausmaß des Vogelschlags wird aber oft übertrieben dargestellt.
W – Wahl-Wahnsinn:
Eine der größten Herausforderungen für die Energiewende stellen mit Sicherheit die politischen Wahlmechanismen in den meisten (demokratischen) Ländern dar: Oft treffen Politiker Entscheidungen nicht nur anhand der Frage, ob eine Maßnahme die beste Lösung für alle Beteiligten (Menschen, Umwelt, etc.) ist, sondern danach, wie sehr sie die Wahrscheinlichkeit ihrer nächsten Wiederwahl oder jener ihrer Partei fördert. Nur so ist es zu erklären, dass viele Maßnahmen umgesetzt werden, die ganz offensichtlich mittel- und langfristig die schlechteste aller Lösungen darstellen. Hinzu kommt noch, dass gerade bei einem Thema wie der Energiewende Entscheidungen bzw. deren Auswirklungen erst viele Jahre später spürbar werden. Besondere Gefahr geht hier von populistischen Systemen aus, in denen die Menschen keine oder zu wenige Infos bzw. nicht die Möglichkeit haben, Informationen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Deshalb kommt gerade dem Thema Bildung und unabhängigen Medien eine unschätzbar wichtige Rolle am Gelingen der Energiewende zu.
X – „X-Faktor-X-treme“:
Der „X-Faktor“ ist das große Fragezeichen, das Unplanbare am Weg zu Zero-CO2-Emissions – es bezeichnet alle unvorhergesehenen Ereignisse, Entwicklungen oder Technologien, die eine mehr oder weniger große Auswirkung auf das Gelingen der Energiewende haben können. Diese können eher (auf den ersten Blick) negativer Natur sein. Denken wir beispielsweise an die Atomkatastrophe von Fukushima, die gerade in Europa zu einem völligen Umdenken in der Atompolitik geführt hat. Oder den Ukraine-Krieg, der viele von diesen Errungenschaften wieder zunichte gemacht und zu einer wahren Renaissance der Atomenergie geführt hat. Sie können aber natürlich auch gänzlich positiv und begrüßenswert sein: etwa bahnbrechende technologische (R-) Evolutionen wie weniger ressourcenintensive Energie-Speicherlösungen, die die Rahmenbedingungen in kurzer Zeit völlig verändern können.
Y – Yes to Youth Empowerment:
Die Stärkung der Jugend im Kampf gegen den Klimawandel ist entscheidend, wie die Bewegung Fridays for Future gezeigt hat. Vielen von uns geht das Thema Klimawandel auch (noch) nicht so nahe, weil wir derzeit die unmittelbaren Auswirkung (noch) nicht, oder nur selten zu spüren bekommen. Vielmehr
handelt es sich um ein Zukunftsthema, das vor allem für die Generationen nach uns unmittelbar relevant wird. Deshalb ist es auch so wichtig, gerade unter der Jugend ein besonderes Bewusstsein für das Thema zu erzeugen, denn sie sind nicht nur die Führungskräfte der Zukunft, sondern haben gemeinsam auch die Kraft, die Entscheidungsträger von heute davon zu überzeugen, dass es aktuell eigentlich kaum ein
wichtigeres Thema als das Gelingen der Energiewende gibt. Und wieder sind es Bildungsinstitutionen, denen hier bei der Awareness-Bildung – sowohl von Jungen als auch Älteren – eine wichtige Aufgabe zuteilwird.
Z – Zero-Emissions-Wissenschafts-Zankerei:
Die Wissenschaft und Forschung spielt eine wesentliche Rolle bei der Erforschung und Entwicklung von Lösungen für den Klimawandel und die Energiewende. Dies umfasst sowohl technologische Innovationen als auch die Erforschung von sozialen, wirtschaftlichen und politischen Aspekten. Nicht nur beim Thema Effizienz von erneuerbaren Energien, auch bei der Speicherbarkeit von Energie hat die Wissenschaft schon einen großen Beitrag geleistet. Darüber sind sich viele Experten einig. Andere behaupten allerdings, dass seitens der Wissenschaft noch viel mehr passieren muss. Gerade wenn es um die Entwicklung und Vermarktung von weiteren alternativen Energielösungen geht, gäbe es noch viel Luft nach oben. Aber es wäre unfair, die Verantwortung allein auf die Wissenschaft abzuwälzen. Auch Politik und Unternehmen
können hier einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie zusätzliche Mittel für Investitionen in F&E in ihren Jahresbudgets/-etats festschreiben, die explizit für Innovationen im Zusammenhang mit der Energiewende verwendet werden
Prof. Dr. Jonas Puck



Vielen Dank für das interessante Glossar, welches sicher noch weiter ausgebaut werden könnte. Insbesondere die kleinen Spitzen bzw. der subtile Humor hat mir richtig gut gefallen. Vielleicht findet ihr ja noch was für die Zahlen von 0 bis 9. 😉