Die Öko-Utopie ist möglich

Die Öko-Utopie ist möglich
zeit.de: Agrar-Fachleute haben eine hoffnungsvolle Vision für Europas Äcker und Wälder entworfen – mit wissenschaftlichem Fundament. Sieht so die Landwirtschaft von morgen aus?
Ein Nachmittag im Frühsommer 2045. Fahrradwetter, also los: Egal, wo in Deutschland diese Tour beginnt, ob in Berchtesgaden, Bielefeld oder Anklam – überall sind die Landschaften bunt, wenn man die Stadt hinter sich gelassen hat. Es summt und es zwitschert.
Auf den Feldern, die bis vor Kurzem noch von Monokulturen geprägt waren, stehen viele unterschiedliche Pflanzen: Neben Weizen, Gerste, Raps und Zuckerrüben wachsen Erbsen, Bohnen und Lupinen, Hafer, Buchweizen oder Feldgemüse. Auf einem Fünftel der Fläche gedeihen Blumen, Disteln, Hecken, Sträucher und Bäume, manche tragen Obst oder Nüsse. Mal stehen sie in ordentlichen Reihen, mal wie von der Natur selbst komponiert. Auch die Wälder sind artenreicher, und es gibt mehr: Auf drei Prozent der Fläche sind neue Haine dazugekommen. Einige Bäume haben schon eine stattliche Höhe erreicht. Über weite Weiden ziehen Rinder, vor den Ställen laufen Schweine umher.
Vielen mag diese Zukunft wie eine romantische Öko-Illusion erscheinen. Tatsächlich steckt dahinter aber ein wissenschaftlich begründetes Szenario, das der Berliner Thinktank Agora Agrar gerade in Berlin präsentiert hat.
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Landnutzungssektor und alles, was damit zusammenhängt
Das unabhängige, vor zwei Jahren gegründete Expertengremium wird von zwei renommierten Agrarfachleuten geleitet: Harald Grethe, Professor an der Berliner Humboldt-Universität und langjähriger Berater der Bundesregierung, sowie Christine Chemnitz, die zuvor 16 Jahre lang bei der Heinrich-Böll-Stiftung im Bereich Landwirtschaft gearbeitet hat. Die Studie Ernährung, Land- und Forstwirtschaft in einer klimaneutralen EU ist die erste des Teams, das aus 18 Mitarbeitenden besteht. Unterstützt wurde es in seinen Berechnungen von externen Modellierern.
Anders als viele Arbeiten, die sonst oft einen einzelnen Bereich untersuchen – die Klimagas-Emissionen oder die Ernährungspolitik, den Ackerbau oder die Zukunft der Wälder –, beleuchtet die Studie von Agora Agrar nun den gesamten Landnutzungssektor aus Land- und Forstwirtschaft mit allem, was davon abhängt: Dazu gehören neben der Klimaneutralität mehr Artenvielfalt, eine grünere Industrie, stabilere Ökosysteme, mehr Tierwohl, ein gerechteres Ernährungssystem und – gewiss nicht zuletzt – gesündere Bürgerinnen und Bürger.
Für all diese Bereiche hat man in Deutschland und der EU schon politische Ziele definiert. Doch auch der Green Deal nahm bisher eher wirtschaftlich attraktive Klimaschutztechnologien in den Blick als Perspektiven für die ländlichen Räume. Außerdem sind die Anbauflächen begrenzt, man kann sie nur einmal nutzen. Daraus resultiert eine Art Konkurrenz: Nachhaltigkeitsambitionen in einem Bereich gehen oft auf Kosten eines anderen. Und Land- und Forstwirtschaft kommen ökologisch nur langsam voran.
Wie die Veränderungen aussehen müssten, ist klar
Dass das nicht so sein muss, wenn man mehrdimensional denkt und plant, gehört zu den guten Nachrichten, die das interdisziplinäre Berliner Team mit seinen Berechnungen liefert. Seine Kernbotschaft: Alles geht. Man muss es nur wollen, muss es gestalten. Die Treibhausgas-Emissionen aus dem Landnutzungssektor zum Beispiel könnten der Studie zufolge bis 2045 um 60 Prozent sinken. Was müsste, was könnte bis dahin passiert sein? Ein Blick in das Szenario.
Die Zahl der Nutztiere ist 2045 drastisch gesunken, Schweine und Rinder werden anders gefüttert und gehalten. Auch die hohen Klimagas-Emissionen aus trockengelegten Mooren – auf nur zwei Prozent der Fläche sind sie für rund ein Fünftel des Gesamtausstoßes der Landwirtschaft verantwortlich – sind 2045 deutlich verringert: um 70 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente. Denn vier Fünftel dieser Gebiete sind wieder vernässt worden.
Dank der größeren Vielfalt kombinierter Ackerfrüchte und Bäume, neuer Anbautechnologien, präziser Methoden und Ziele in der Pflanzenzüchtung wird nur noch die Hälfte der aktuell eingesetzten, energieintensiv erzeugten Pestizide gebraucht. Auch regionale Stickstoffüberschüsse sind bis 2045 halbiert. Böden und Wälder speichern Kohlenstoff.
All diese Klimaschutzmaßnahmen gelingen, während zugleich mehr Insekten, Vögel und wilde Säugetiere Lebensräume finden. Die Chemie-, die Bau- und andere Industrien stellen ihre Rohstoffgrundlage von fossilen Produkten auf erneuerbare, biologische um. 20 Prozent mehr Materialien werden bis 2045 aus pflanzlichen Ressourcen hergestellt. Woher kann so viel Biomasse kommen, wenn zugleich mehr Holz in den Wäldern liegen und stehen bleiben muss? …weiterlesen