Erderwärmung wegen Wolkenschwunds

Erderwärmung wegen Wolkenschwunds
spiegel.de: Wird es auf der Erde eines Tages so heiß wie auf der Venus? Forscher warnen: Am Himmel gibt es immer weniger Wolken. Die Folgen für das Klima könnten dramatisch sein.
Es braucht nicht viel, um dem Leben auf Erden ein Ende zu bereiten. Es reicht, wenn ein bestimmter Parameter dauerhaft das Vorzeichen wechselt. Dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Ozeane zu kochen beginnen. Bjorn Stevens steht an der Tafel in seinem Büro in Hamburg. Er malt ein paar Kurven, kritzelt einfache Formeln: In schlichten Kreidestrichen skizziert er ein Weltuntergangsszenario.
Der Parameter Lambda beschreibt, wie das Erdsystem auf Temperaturveränderungen reagiert, so erklärt es der Klimaforscher vom Max-Planck-Institut für Meteorologie. Normalerweise ist das Feedback negativ. Bei jeder Erwärmung oder Abkühlung wirken natürliche Rückstellkräfte und stabilisieren so das Klima.
Wird das Feedback aber positiv, heizt sich die Erde immer weiter und immer schneller auf. Es gibt kein Halten mehr, das Klima läuft aus dem Ruder. Genau das geschah einst auf der Venus: Ihre Atmosphäre erhitzte sich durch fortgesetzt positive Feedbackeffekte immer weiter, bis sie zur 470 Grad Celsius heißen Treibgashölle geworden war.
»Natürlich steht der Erde ein solches Schicksal nicht bevor«, sagt Stevens. Auf keinen Fall dürfe seine Überschlagsrechnung als Vorhersage missverstanden werden. Aber zu denken gebe ihm die Sache schon. Es gebe Messwerte, die darauf hindeuten, dass Lambda auf der Erde derzeit positiv ist. »Wenn sich dieser Trend fortsetzt, haben wir ein echtes Problem«, sagt der Max-Planck-Forscher.
Im Jahr 1997 hat die Nasa das satellitengestützte Erdbeobachtungsprogramm Ceres gestartet. Es erfasst unter anderem, wie viel Strahlung von der Sonne auf die irdische Atmosphäre trifft und wie viel von der Erde wieder zurück ins All geworfen wird. Ceres ist so etwas wie ein Stromzähler, der den Energieverbrauch des gesamten Planeten misst.
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Unerwartete Überraschung im Messprogramm
Die Strahlungsbilanz der Erde ist unausgeglichen. Es gelangt ein klein wenig mehr Energie ins Erdsystem hinein als wieder hinaus. Die Hauptursache dafür sind die Treibhausgase, die der Mensch in die Atmosphäre ausstößt. Die Folge ist die globale Erwärmung.
So weit, so bekannt. Doch die Ceres-Daten liefern noch einen zweiten Befund, und dieser kam für die Forscher überraschend: Die Differenz zwischen ein- und ausgehender Strahlung hat seit Beginn des Messprogramms unerwartet stark zugenommen. Es sieht aus, als steckte etwas noch Unbekanntes im Klimasystem, das die Erde immer schneller erhitzt.
Noch sei es zu früh, Alarm zu schlagen, sagt Stevens: »Gut möglich, dass sich der Trend unvermittelt umkehrt oder dass sich die Messungen als fehlerhaft erweisen.« In den Modellrechnungen der Klimaforscher sei jedenfalls von dem Verstärkungseffekt nichts zu sehen.
Trotzdem betrachtet Stevens die Ceres-Daten als Warnsignal. Er sieht in ihnen einen Hinweis darauf, dass die Forscher das Klima möglicherweise weit weniger gut verstehen, als sie denken. »Vielleicht ist die Erde empfindlicher, als wir glauben«, sagt er.
Die Modellierung des Klimas ist eine wissenschaftliche Erfolgsgeschichte mit enormer politischer Bedeutung. In mehr als 50 Klimarechenzentren weltweit simulieren Forschende mit ihren Supercomputern den Einfluss der menschengemachten Treibhausgase auf das Weltklima und stellen ihre Ergebnisse als Entscheidungsgrundlage für Politiker bereit.
Die Messungen der Wetterstationen geben ihnen recht: Die globale Temperatur ist in den vergangenen 150 Jahren um etwas mehr als 1,3 Grad gestiegen, genau wie es die Klimamodelle vorhergesagt haben. Über dem Land erwärmt sich die Atmosphäre schneller als über den Ozeanen, besonders drastisch heizen sich die Polarregionen auf. Die Stratosphäre in rund 20 bis 40 Kilometer Höhe kühlt sich unterdessen ab. All das stimmt überein mit den Prognosen.
Politiker jedoch, die Deiche bauen, Städte begrünen oder Windparks planen wollen, müssen wissen, wo genau es trockener wird, wo Überschwemmungen drohen und wo der Wind künftig kräftiger bläst. Genau da aber hapert es: Es häufen sich regionale Klimaereignisse, die im Widerspruch zu den Vorhersagen stehen.
Wie etwa konnten Anfang Juni 2021 im Westen Kanadas plötzlich Temperaturen auftreten, wie sie sonst nur in Wüsten vorkommen? Wieso schrumpfte das Meereis der Antarktis, das über viele Jahre hin einigermaßen stabil geblieben war, 2023 auf einmal um eine Fläche groß wie Mitteleuropa? Auch die Hitzewellen, die Europa zuletzt heimsuchten im Mittelmeerraum 2024, in Großbritannien 2022 und auch in Mitteleuropa 2019, waren heftiger, als es die Modelle vorhergesagt hatten.
Sind das bloße Ausnahmen, statistische Ausreißer, wie sie eben passieren können? Oder zeigt sich darin ein Versagen der Klimamodelle? »Unter den Forschern herrscht keine Einigkeit darüber, wann es zu viele Diskrepanzen sind, um sie unter den Teppich zu kehren«, schreibt der Hamburger Experte Stevens zusammen mit seiner Chicagoer Kollegin Tiffany Shaw im Fachblatt »Nature«. Das Autorenteam wirft die Frage auf, ob ihr Fach in einer tiefgreifenden Krise stecke, die sich nur durch einen Paradigmenwechsel auflösen lässt.
Rätselhafter Mechanismus
Die Ceres-Daten zur Strahlungsbilanz könnten dafür zentral sein: Der darin gefundene Trend wird von den Klimamodellen nicht richtig abgebildet. Falls er sich bestätigen sollte, würde dies einen grundlegenden Mangel der aktuellen Modelle offenbaren.
Die Ceres-Messungen zeigen, dass die Erde seit dem Beginn des Jahrhunderts immer weniger Sonnenlicht reflektiert, mit anderen Worten: Sie ist dunkler geworden. Die Forschenden rätseln, welche Mechanismen für diesen Effekt verantwortlich sein könnten.
Ist es das Abschmelzen von Meereis in den Polregionen? Indem es schwindet, tritt dunkles Wasser an die Stelle von weißem, stark reflektierendem Schnee. Das trägt zweifellos zur Verdunkelung der Erdoberfläche bei, doch als Ursache für die Ceres-Anomalie scheidet dieses Phänomen aus. Denn die Satelliten haben sie nicht in den Polregionen gemessen…. weiterlesen