IAEA-Chef Birol über die „erste globale Energiekrise“

IAEA-Chef Birol über die „erste globale Energiekrise“
zeit.de: Deutschland hat die Warnungen der Internationalen Energieagentur ignoriert, sagt deren Chef Fatih Birol. Seine Prognose: Die Energiepreise werden lange Zeit hoch bleiben.
Fatih Birol leitet die Internationale Energieagentur (IEA), in der sich 31 westliche Industrienationen zusammengeschlossen haben. Die IEA, die 1974 im Zuge der ersten Ölkrise gegründet wurde, berät Regierungen in Energiefragen und koordiniert die staatlichen Ölreserven. Der 64-Jährige begleitet die deutsche Energiepolitik seit mehr als drei Jahrzehnten.
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ZEIT ONLINE: Herr Birol, die Energiepreise sind in den vergangenen Monaten rasant gestiegen, Diesel im Monatsvergleich um mehr als 60 Prozent, die Gaspreise am Spotmarkt um rund 200 Prozent. Werden wir jemals wieder niedrigere Energiepreise sehen?
Fatih Birol: Auf jeden Fall werden wir für einen längeren Zeitraum hohe und schwankende Öl- und Gaspreise sehen. Die aktuelle Lage an den Energiemärkten ist einmalig: Wir erleben die erste echte globale Energiekrise. Natürlich gab es bereits zwei Ölkrisen in den Siebzigerjahren. Aber im Unterschied zu damals ist nicht nur Öl betroffen, sondern auch Kohle und Gas. Und das Land, das der Ukraine den Krieg erklärt hat, ist nicht irgendein Land, sondern weltweit der wichtigste Öl- und Gasexporteur. Ein Ergebnis der Sanktionen wird sein, dass der Anteil von russischem Gas und Öl auf den Weltmärkten beachtlich zurückgehen wird. Es wird sehr schwer, diese Öl- und Gasmengen aus Russland komplett zu kompensieren. Und das wird die Preise weiter treiben.
ZEIT ONLINE: Wie lange wird diese Entwicklung genau anhalten?
Birol: Ich schätze, wir müssen mindestens zwei bis drei Jahre mit so hohen Energiepreisen rechnen. Es ist eine Zickzackbewegung und wir sind erst am Anfang. Keiner weiß, was noch passieren wird. Aber klar ist, dass Energie immer im Zentrum sämtlicher politischer Reaktionen in diesem Krieg stehen wird – seien es Antworten der USA oder Europa oder aus Russland.
ZEIT ONLINE: Können Sie den hohen Preisen auch etwas Gutes abgewinnen?
Birol: Sicherlich führen die hohen Preise dazu, dass Öl und Gas effizienter eingesetzt werden. In den Siebzigerjahren hat die Ölkrise etwa einen enormen Innovationsschub ausgelöst, gerade bei Energiespartechnologien.
Aber die hohen Preise schaden eben der Wirtschaft, vor allem in weniger entwickelten Staaten. Gerade dort werden Investments in saubere, grüne Technologien zurückgehen, weil die Finanzlage angespannter ist. Meine größte Sorge ist, dass einige Staaten die Kohle wieder neu entdecken und sie als sichere und stabile Energiequelle einschätzen – gerade in Asien. Mehr Kohle, mehr Kohlekraftwerke. Vor dieser großen Energiekrise haben wir gesehen, dass viele Länder konkrete Schritte planten, um aus der Kohle auszusteigen. Eine Revitalisierung der Kohle aber können wir uns angesichts des Klimawandels nicht mehr leisten.
ZEIT ONLINE: Aber wie kommen wir aus der aktuellen Situation heraus?
Birol: In Europa und in den USA müssen wir auf zwei Arten reagieren: Es gibt kurzfristige Notfalllösungen, etwa Gas aus anderen Staaten als Russland zu importieren. Und in einigen Ländern wie Dänemark oder den Niederlanden lässt sich die Gasförderung noch hochfahren. Aber viel wichtiger ist die strukturelle Neuorientierung: mehr Tempo beim Wechsel zu klimafreundlichen Technologien. Energiesicherheit wird der wichtigste Motor, um die Klimaziele zu erreichen. Das funktioniert mit mehr Erneuerbaren, mehr Energieeffizienz, mehr Wasserstoff und einer Diversifizierung der Energiequellen. Heute ist es Russland, aber morgen kann schon ein anderes Land die Welt in Geiselhaft nehmen.
ZEIT ONLINE: Deutschland hat jahrzehntelang auf eine enge Energiepartnerschaft mit Russland gesetzt.
Birol: Wir haben Deutschland schon seit Jahren gesagt: Diversifiziert euch endlich. Sich von Russland abhängig zu machen, war ein großer Fehler Deutschlands. Es gibt das Sprichwort: Ein schlimmes Ereignis lehrt dich mehr als 1.000 Ratschläge. Die Fehler der Vergangenheit bekommt Deutschland nun zu spüren. Die einzige Lösung sind saubere Technologien. Mich hat die Bundesregierung sehr beeindruckt: In gerade einmal 24 Stunden hat sie große Entscheidungen in der Außenpolitik, Militärpolitik und Energiepolitik getroffen.
ZEIT ONLINE: Warum fiel es deutschen Regierungen zuvor so schwer, diese Abhängigkeit zu reduzieren?
Birol: Vielleicht gab es in der Vergangenheit wirtschaftliche Überlegungen, die kurzfristig Sinn ergaben. Aber langfristig war das natürlich keine gute Idee, nicht nur mit dem Wissen von heute. Ich habe mehrfach mit deutschen Politikern Nord Stream 2 diskutiert. Russisches Pipelinegas war kurzfristig einfach günstiger. Aber man muss eben die Gesamtkosten über den kompletten Lebenszyklus solcher Projekte beachten und sie vergleichen – gerade mit Erneuerbaren. … weiterlesen