Imperialismus ist immer Imperialismus der anderen

Imperialismus ist immer Imperialismus der anderen
berliner-zeitung.de: Der These, dass „imperiale Spiele“ nur noch von Russland betreiben würde, widersprechen unsere Autoren. Eine kritische Antwort auf Jürgen Osterhammels FAZ-Text.
Jürgen Osterhammels Versuch, Putins Endspiel zu verstehen, ist nicht überzeugend. Sein Aufsatz in der FAZ vom 20. Juni lässt die Frage unbeantwortet, was dieses Endspiel denn nun eigentlich sein soll. Man kann Osterhammel nicht den Vorwurf machen, dass er auf diese Frage keine abschließende Antwort gibt, aber man kann ihm vorwerfen, dass er sich bei der Suche nach ihr an eben jener politischen Rhetorik orientiert hat, die er doch eigentlich hinter sich lassen wollte.
Der Begriff des Imperialismus kommt auch bei Osterhammel nicht über die rhetorische Funktion hinaus, ein „giftiges Wort“ zur „Brandmarkung“ Russlands zu sein. Die Kernthese seines Aufsatzes lautet, dass Russland mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine ein imperiales Spiel wiederbelebt hat, aus dem der Westen lange ausgestiegen ist: „Russland spielt nicht einfach in einem imperialen Spiel mit, wie es das von Peter dem Großen bis Stalin getan hat. Dieses imperiale Spiel gibt es nicht mehr.“ Aber kann man das so apodiktisch sagen?
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Es ist doch mindestens genauso plausibel zu behaupten, dass das imperiale Spiel nach dem „Zeitalter des Imperialismus“ nie wirklich beendet worden ist, sondern über Epochenbrüche, Länder- und Systemgrenzen hinweg bis heute von allen Seiten in Gang gehalten wird. Osterhammel blendet die historische Tiefenstruktur des imperialen Spiels aus, wenn er davon spricht, dass Russland in eine „seit Langem nicht mehr imperialistische“ internationale Ordnung „eingebrochen“ sei; und bekräftigt so die Rolle des Westens als Verteidiger dieser Ordnung. Das ist zu einfach und wird dem Begriff des Imperialismus nicht gerecht. Dessen aktuelle Relevanz besteht gerade darin, dass er die gängigen Freund-Feind-Narrative dekonstruiert, um die kollektive Verantwortung der großen Mächte für die militärische Eskalation von Konflikten sichtbar zu machen.
In Europa tobt der Ukrainekrieg, der Nahe Osten versinkt immer tiefer in Gewalt, im Pazifik schwelt ein gefährlicher Konflikt, die Rüstungsausgaben steigen, die Rhetorik wird auf allen Seiten schärfer. Es braucht einen nicht zu wundern, dass Politiker in einer derart angespannten Weltlage nicht mit selbstkritischen Aussagen in die Öffentlichkeit treten. Aber warum fällt es vielen zivilgesellschaftlichen Beobachtern so schwer, die Mitverantwortung des Westens an eben dieser Weltlage kritisch zu reflektieren, ja überhaupt nur anzuerkennen? Ein Teil der Antwort könnte lauten: weil das kritische Denken seit geraumer Zeit im Bann der Ereignisse steht. Das Ereignis sagt „uns“ mit geradezu religiöser Autorität, was die Stunde geschlagen hat. Es ist der brennende Busch, in dem sich das Gesetz unserer Zeit offenbart, das Kreuz der Gegenwart, das wir auf uns nehmen müssen, die Stimme des Propheten, der das letzte Wort gesprochen hat, das Datum, das schon der ganze Inhalt ist: der 11. September, 22. Februar, 7. Oktober.
In der Fixierung aufs Ereignis wird Geschichte verdrängt. Immer gibt es eine Zäsur, gar eine „Zeitenwende“, nach der wir plötzlich in einer neuen Welt aufwachen, ohne Aussicht in die alte zurückkehren zu können, aber auch ohne Verpflichtung, aus den dunklen Kapiteln der jüngsten Vergangenheit selbstkritisch Konsequenzen ziehen zu müssen. Gestern war gestern. Heute ist heute. Der Westen, der heute die „regelbasierte Weltordnung“ verteidigt, ist nicht der Westen, der dieser Welt gestern sein Gesetz mit Gewalt aufgezwungen hat. Die USA, die heute für die souveränen Rechte der Ukraine einstehen, sind nicht die USA, die gestern einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak geführt haben. Der Westen ist immer ein anderer, aber die anderen bleiben sie selbst – die bösen Geister der Vergangenheit, die die zivilisierte Welt bedrohen.
Der Imperialismus der anderen
Nach diesem Muster verfährt Jürgen Osterhammel mit Russland, wenn er es zum dämonischen Wiedergänger einer Vergangenheit erklärt, die der Westen mit seiner „regelbasierten Ordnung“ bereits überwunden hat. Putins Russland ist der Repräsentant des Unzeitgemäßen. Ein atomar bewaffneter Anachronismus. Ein von imperialer Nostalgie irregeleiteter Koloss. Oder einfach nur der Feind, den es zu besiegen gilt. Aber der Feind ist mitunter das Eigene in fremder Gestalt. Aus Sicht der Kreml-Propaganda ist es der Westen, der seine unzeitgemäßen imperialen Ambitionen nie aufgegeben hat, der die Welt immer noch in antagonistische Blöcke aufteilt und dabei dem alten Traum vom „Regime Change“ in Moskau und Peking nachhängt.
Der Imperialismus ist immer der Imperialismus der anderen. Die Instrumentalisierungen dieses Begriffs sehen einander zum Verwechseln ähnlich, aber gleichzeitig verweisen sie auf einen symptomatischen Unterschied im Umgang mit der Geschichte. Während der russische Präsident im Interview mit Tucker Carlson einen halbstündigen historischen Monolog hält, in dessen Verlauf er seine tausendjährigen Kriegsgründe buchstäblich aus den Kremlarchiven herausklaubt, gilt in manchen westlichen Talkshows schon der Hinweis auf die komplexe Vorgeschichte des Ukrainekriegs entweder als hinfälliges Gerede von gestern, denn wir sind ja am 22. Februar in einer neuen Welt aufgewacht, oder sogar als latente Legitimation des russischen Angriffskriegs. Die Differenzen an der Oberfläche des ideologischen Spiels haben eine tiefere Bedeutung. Die russische Ideologie kultiviert einen autokratischen Souveränitätsbegriff, der die Legitimität politischer Macht aus der mythisch überhöhten Geschichte des russischen Staates schöpft. Das westliche Souveränitätsverständnis, zu dem seit den bürgerlichen Revolutionen immer auch die Überwindung der Vergangenheit (des Ancien Régime) gehört, ist ein grundsätzlich anderes. Im Westen legitimiert sich die politische Macht nicht durch den regressiven Rekurs auf die Geschichte, sondern durch die demokratische Willensbildung, die prinzipiell in jeder Legislatur erneuert wird.
Kernfrage: Wie lässt sich das imperiale Spiel beenden?
Müsste es also beim Imperialismusbegriff – gerade von einem zukunftsoffenen westlichen Standpunkt – nicht darum gehen, die geschichtliche Wirklichkeit des Krieges aus der Perspektive seiner Überwindung zu analysieren – statt immer nur seine Unvermeidlichkeit festzustellen? Müsste nicht die Frage, wie Russland besiegt werden kann, durch die Frage ersetzt werden, wie das imperiale Spiel, das die Welt heute wieder an den Rand des Abgrunds treibt, sich ein für alle Mal beenden lässt? Ist es möglich, den Krieg als Mittel der Politik zu überwinden, wie die Sklaverei als Mittel der Produktion überwunden worden ist? Oder sind wir dazu verdammt, das imperiale Spiel bis in alle Ewigkeit zu spielen? Das mögen naive, allzu globale Fragen sein, aber sie stehen Zivilisten besser zu Gesicht als die im Übrigen nicht minder naive Beteiligung am Krieg der Narrative, der den realen nur weiter anheizt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die imperialistische Politik der europäischen Großmächte nicht nur von sozialistischen, sondern auch von liberalen Kräften, die darin einen Rückfall hinter die Aufklärung und das ökonomische Ideal des Freihandels sahen, scharf kritisiert. Zu den wichtigsten Beiträgen der liberalen Imperialismus-Kritik gehört Joseph Schumpeters nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlichter Aufsatz „Zur Soziologie der Imperialisten“. Schumpeter entfaltet hier den Gedanken, dass der Begriff „Imperialismus“ zwar im 19. Jahrhundert geprägt worden ist, aber einen sehr viel älteren Sachverhalt beschreibt, der letztlich bis zu den Imperien der Antike zurückreicht und dessen neuzeitlichen Ursprünge im absolutistischen Staat liegen. Im bewussten Gegensatz zu den sozialistischen Theorien, aber in Anerkennung ihrer Bedeutung, führt Schumpeter den Ausbruch imperialistischer Kriege nicht primär auf ökonomische, sondern auf sozialpsychologische Motive zurück. Für Adelige, Fürsten und Könige war der Krieg immer schon ein prestigeträchtiges Mittel, um ihre Herrschafts- und Kampfinstinkte, ihre Hab- und Beutegier zu befriedigen. „Der absolute Herr“, schreibt Schumpeter, „der tun kann, was er will, führt Kriege ebenso wie er auf die Jagd reitet.“ Auf vergleichbare Weise hatte schon Immanuel Kant in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ den Zynismus von Kabinettspolitikern charakterisiert, die den Krieg „wie eine Art Lustpartie“ führen.
Wer sich für den Krieg rüstet, muss ihn irgendwann führen
Die absolutistische Herrenmentalität überdauert nach Schumpeter die bürgerlichen Revolutionen, um sich in den Institutionen des modernen Staates festzusetzen: dem stehenden Heer, der Bürokratie, der Geheimdiplomatie. Aus der Mentalität sozialer Milieus wird so die „objektlose Disposition“ des Staates „zur gewaltsamen Expansion ohne angebbare Grenze“. Es entsteht eine „selbstlaufende“ Kriegsmaschine, die die aggressiven Instinkte der Einzelnen systematisiert, anonymisiert und potenziert. Angetrieben von diesem Automatismus expandiert der imperialistische Staat, um des Expandierens willens, bis er schließlich auf dem Gipfel seiner Macht unweigerlich in die Defensive gerät, weil es für ihn keinen „Winkel der bekannten Erde“ mehr gibt, „wo nicht irgendwelche Interessen verletzt oder angegriffen sind.“ Schumpeters Analyse widerspricht damit der heute wieder weithin akzeptierten Devise, dass man sich für den Krieg rüsten müsse, wenn man den Frieden erhalten will. Aus Schumpeters Sicht schreit Kapazität nach Auslastung: Wer sich für den Krieg rüstet, wird ihn irgendwann führen… weiterlesen