Klimaforschung: Neue Linie beim Klima

Klimaforschung: Neue Linie beim Klima
zeit.de: Wie schnell sich Deutschland erhitzt, das ging in den Statistiken des Deutschen Wetterdienstes bisher unter. Deshalb nutzen die Forscher ab jetzt ein neues Rechenverfahren – und sorgen sich schon vor einem Shitstorm.
Zweieinhalb Grad. So viel wärmer ist Deutschland seit Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon geworden. Diese Erwärmung, ja, Erhitzung ist das zentrale Maß für den Klimawandel in Deutschland. Sie ist die Basis für alles, was wir gegenwärtig als Folgen der Klimakrise erleben: zum Beispiel mildere Winter, sommerliche Hitzewellen und eine erhebliche Zunahme der sogenannten Tropennächte, in denen es nicht kühler wird als 20 Grad Celsius. Nicht alle Klimafolgen – wie Dürreperioden, Sturzfluten und Blockade-Wetterlagen – lassen sich in Grad Celsius ausdrücken. Aber sie alle sind Folgen des langfristigen Trends höherer Durchschnittstemperaturen.
Für den stand bislang eine andere Zahl, nämlich 1,9 Grad Erwärmung seit dem Jahr 1881. Auch die liegt schon über dem globalen Temperaturanstieg. Das Gebiet der Bundesrepublik erwärmt sich also schneller als andere Länder. Und dennoch sind diese 1,9 Grad – wenngleich mathematisch nicht falsch – eine statistische Untertreibung. Sie können die zunehmende Eskalation schlicht nicht mehr abbilden.
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Deswegen verwendet der Deutsche Wetterdienst (DWD) ab sofort eine andere Berechnungsmethode. Bei dessen jährlicher Klimapressekonferenz in Berlin wurde sie am Dienstag dieser Woche vorgestellt. Und mit ihr die neue Zahl zur Erhitzung: 2,5 Grad.
„Die Temperatur ist eine Kerngröße, um Veränderung im Klimasystem zu beschreiben“, sagt Florian Imbery, Klimastatistik-Spezialist beim Wetterdienst in Offenbach. Bloß habe die Klimakrise die bisherige Methode, um diese Zahl zu berechnen, zusehends obsolet gemacht. Klimaforscher weisen schon lang darauf hin.
Um 2,5 Grad Celsius
ist die Temperatur in Deutschland bereits gestiegen
Man muss nicht in die mathematischen Feinheiten eintauchen, um zu verstehen, weshalb: Die vergangenen zehn Jahre waren die heißesten seit Beginn der Messungen. Und die Temperaturen stiegen nicht peu à peu, sondern machten regelrechte Sprünge, etwa 2023 und 2024, dem heißesten Jahr seit Beginn der Messungen. Gerade haben die Potsdamer Klimaforscher Stefan Rahmstorf und Grant Foster eine neue Analyse zur Prüfung bei der Fachzeitschrift Nature eingereicht, in der sie schreiben: „Nach 2015 sind die globalen Temperaturen signifikant schneller angestiegen als in jedem vorherigen 10-Jahre-Zeitraum seit 1945.“ Mit anderen Worten: Es wird immer schneller wärmer, und das zwingt die Wetterstatistiker dazu, sich auch für Deutschland neue Werkzeuge zu suchen.
„Durch diese Beschleunigung ist es nicht mehr möglich, mit dem bisherigen Verfahren weiterzuarbeiten“, sagt der Klimastatistiker Florian Imbery. Dieses Verfahren ist das statistische Äquivalent zu einem Lineal, mit dem man einen geraden Strich vom Anfang in den 1880er-Jahren bis in die Gegenwart zieht. „Lineare Regression“ nennen das die Fachleute, eine Standardmethode. Die Linie, die dabei herauskommt, das erkennen auch Laien, ist eine Gleichmacherin: Wo ab der Jahrtausendwende Rekordtemperatur auf Rekordtemperatur folgt, läuft die Linie dennoch gleichmäßig weiter (siehe Grafik). Ihre Neigung stellt den Mittelwert der Veränderung über den gesamten Zeitraum dar: 150 Jahre. Der historische Durchschnitt verschluckt die Dramatik der Gegenwart.
Nun ist die mittlere Temperaturzunahme seit Industrialisierungsbeginn kein sensibler Parameter, der in Klimamodelle eingespeist, für Wetter- oder Unwettervorhersagen verwendet würde. Für die Vorbereitung auf die Zukunft ist es dagegen zentral, die Dynamik der Erhitzung voll zu erfassen.
Schon lange suchen Fachleute in aller Welt deswegen nach Alternativen. Fünf Jahre lang haben die DWD-Forscher ausländische Kollegen befragt, Fachliteratur gelesen und herumprobiert. Am Ende haben sie sich dann für eine Methode namens Loess-Filter entschieden. Das steht für: „Locally estimated/weighted Scatterplot Smoothing“ – übersetzt etwa lokal gewichtete Streudiagrammglättung. Streuung nennen Fachleute die Unordnung der einzelnen Werte, in diesem Fall also der Jahresdurchschnittstemperaturen. Lokal heißt, dass bei diesem Verfahren nie ein Mittelwert über den gesamten Zeitraum berechnet wird (wie bei der Lineal-Methode), sondern immer nur für ein Zeitfenster, den Glättungszeitraum. Diese Mini-Mittelung ist wichtig, um zu verhindern, dass einzelne Extremwerte den Verlauf der Kurve verzerren. Und aus mehreren solcher lokalen Mittelwerte ergibt sich dann die Loess-Kurve: geschmeidig wie eine Schlange.
Vorteile des neuen Berechnungsverfahrens
Um kurz bei diesen Metaphern zu bleiben: Während das Lineal nur grob die Richtung des Trends anzeigt, windet sich die Schlange mal nach unten, wie in den Jahrzehnten nach 1950, in denen es zwischenzeitlich kühler wurde. Und mal windet sich die Schlange nach oben, etwa ab dem Jahr 2000, wo die lokalen Werte viel mehr Anstieg zeigen als im Mittel der 150 Jahre. Auch bei kürzeren Zeiträumen ist die Schlange aussagekräftiger als das Lineal. So zeigt die dünn gestrichelte Gerade im rechten Teil der Grafik den linearen Trend von 1971 bis 2024. Sie ist zwar steiler als das Lineal über den gesamten Zeitraum, aber genauso gleichförmig. Die Schlange hingegen windet sich der beschleunigenden Erwärmung folgend… weiterlesen