Milliarden für Angra 3
Milliarden für Angra 3 – Brasiliens drittes Atomkraftwerk soll 2022 weitergebaut werden
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Seit 2015 ist die Baustelle von Brasiliens drittem Atomkraftwerk »Angra 3« im Süden von Rio de Janeiro verwaist. Korruptionsskandale hatten das Projekt lahmgelegt. Nun hat der staatliche Atomkonzern Eletronuclear angekündigt, die Bauarbeiten Anfang 2022 wieder aufzunehmen. Spätestens Ende 2026 soll das Werk am Strand von Itaorna bei der Küstenstadt Angra laut Eletronuclear-Präsident Leonam Guimarães ans Netz gehen. Nach offiziellen Zahlen hat der zu etwa 67 Prozent fertige Bau bereits 7,8 Milliarden Real (1,2 Milliarden Euro) verschlungen.
Die Kosten für die restlichen Bauarbeiten veranschlagt der Atomkonzern auf etwa 17 Milliarden Real, umgerechnet rund 2,7 Milliarden Euro. Brasiliens staatliche Bank für wirtschaftliche und soziale Entwicklung hat das Konsortium »Angra Eurobras NES« unter Leitung der belgischen Unternehmensgruppe Tractebel mit der Wiederaufnahme des Baus beauftragt. Zur Gruppe mit Sitz in Brüssel gehört auch das deutsche Unternehmen Lahmeyer International, das seit 2019 unter dem Namen Tractebel Engineering GmbH in Bad Vilbel firmiert.
Falls »Angra 3« tatsächlich wie vorgesehen ab 2026 Rio de Janeiro mit Strom versorgen sollte, wird es sowohl eines der neuesten als auch eines der ältesten Atomkraftwerke der Welt sein. Angra 3 ist baugleich mit dem deutschen AKW Grafenrheinfeld, das seit 2015 stillgelegt ist und bis 2035 komplett abgerissen sein wird. Brasiliens Militärregierung hatte die Reaktortechnik des seit 1975 geplanten und 1984 begonnenen Kraftwerksbaus mit einer Bruttoleistung von 1.405 Megawatt für rund 375 Millionen Euro von KWU/Siemens gekauft. Bereits 1986 allerdings stellte die Regierung den Bau aufgrund von Geldmangel ein. Seitdem lagert die deutsche Technik des Atomkraftwerks – von Pumpen bis Turbinen, insgesamt rund 12.500 Tonnen empfindliches Material – in Lagerhallen an der Baustelle unter subtropischen Bedingungen. Allein die Lagerung hat bereits mehrere hundert Millionen Euro gekostet, 20 Millionen pro Jahr. Erst die Regierung von Lula da Silva hatte dann 2008 die Fertigstellung von Angra 3 beschlossen und 2010 die Bauarbeiten wiederaufgenommen.
Doch schon 2015 deckte die Antikorruptionsoperation »Lava Jato« der Staatspolizei unter den Namen »Radioaktivität«, »Pripyat« und »Dekontamination« Korruptionsskandale um den Kraftwerksbau auf, die zu dessen vorläufiger Einstellung führten. Die Staatspolizei beschuldigte den Präsidenten von Eletronuclear, Marine-Vizeadmiral a. D. Othon Luiz Pinheiro da Silva, sowie mehrere Politiker, u. a. den damaligen Minister für Bergbau und Energie, Edison Lobão, zwischen 2012 und 2014 Bestechungsgelder in Höhe von mehreren Millionen Euro entgegengenommen zu haben. Doch lediglich der nicht von parlamentarischer Immunität geschützte Eletronuclear-Chef, der einst auch federführend für das geheime Atomwaffenprogramm der brasilianischen Militärregierung war, wurde 2016 zu 43 Jahren Haft verurteilt.
Proteste gegen die Wiederaufnahme des Kraftwerksbaus gibt es in Rio de Janeiro bisher nicht. Anders ist es im Bundesstaat Pernambuco, wo Eletronuclear seit 2011 Brasiliens viertes Atomkraftwerk bauen möchte. Standort soll die rund 500 Kilometer von der Landeshauptstadt Recife entfernte Gemeinde Itacuruba am Rio São Francisco sein. Die in dieser abgelegenen Region lebenden und in der Antiatomkraftbewegung »Articulação Sertão Antinuclear« zusammengeschlossenen indigenen Völker und Quilombolas, Nachkommen geflohener schwarzer Sklaven, halten dagegen. Sie werden unter anderem unterstützt von der lokalen Diözese Floresta, Brasiliens katholischer Bischofskonferenz, und Wissenschaftlern wie der Ethnologin Vânia Fialho von der staatlichen Bundesuniversität von Pernambuco. Ihrer Ansicht nach verletzt die Errichtung eines Atomkraftwerks in Itacuruba die Rechte insbesondere der elf indigenen Völker und neun Quilombola-Gemeinden in der Region.
In ihrer im vergangenen Oktober vorgestellten Broschüre »Nein zum Atomkraftwerk in Itacuruba, im Nordosten und in Brasilien« führt die »Articulação Sertão Antinuclear« Dutzende weiterer Gegenargumente an. Der geplante Atommeiler könnte insbesondere dem Rio São Francisco schweren Schaden zufügen, schreiben die Autoren. Zudem sei es eine Lüge zu behaupten, dass ein solches Atomprojekt zur Schaffung lokaler Arbeitsplätze beitrage und helfe, die sozialen Probleme der Region zu lösen. »Die Bevölkerung von Itacuruba, die bereits in der Vergangenheit durch den Bau des Wasserkraftwerks Itaparica schwer gelitten hat, weiß, dass solche Großprojekte der lokalen Bevölkerung keinen Nutzen bringen«, heißt es in der Broschüre.
1988 hatte der 834 Quadratkilometer große Stausee des Itaparica-Wasserkraftwerks das fruchtbarste Land des Pankará-Volkes, deren Heimatdorf und die Stadt Itacuruba unter Wasser gesetzt. Die Indigenen wollen 33 Jahre später weder ein weiteres Mal Opfer eines Energiegroßprojekts werden noch im Schatten eines Atommeilers leben.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Erstveröffentlichung erfolgte in „junge Welt“ vom 27.12.21
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