Schutz der Natur braucht radikalen Wandel

Schutz der Natur braucht radikalen Wandel
derstandard.at: Eine Zusammenfassung des IPBES-Berichts „Transformative Change“: Wie Macht, Ungleichheit und alte Denkmuster die Biodiversität bedrohen und was wir ändern müssen.
Vor unseren Augen schwindet die Natur und die biologische Vielfalt. Viele Ursachen lassen sich dafür anführen: Zerstörung von Lebensräumen durch Landwirtschaft und Verstädterung, Überdüngung der Gewässer, Vergiftung durch Plastik und gefährliche Chemikalien, die zunehmende Erhitzung der Atmosphäre und viele mehr. Da sind unmittelbare Ursachen. Doch was liegt all dem zugrunde?
Der „Weltbiodiversitätsrat“ IPBES nennt als „grundlegende Ursachen für den Verlust der biologischen Vielfalt und den Niedergang der Natur“ die folgenden:
- die Trennung der Menschen von der Natur und die Herrschaft von Menschen über die Natur und über andere Menschen
- die ungleiche Konzentration von Macht und Reichtum
- die Priorisierung kurzfristiger individueller und materieller Gewinne
Diese kulturkritische Aussage ist die Quintessenz aus der Auswertung von rund 7.000 wissenschaftlichen Quellen, die 101 Wissenschaftler:innen aus 43 Ländern in dreijähriger Arbeit geleistet haben, und die in dem Bericht „Transformative Change“ zusammengefasst sind. Das ist allerdings nur die Kurzbezeichnung für den sehr langatmigen Titel: „The thematic assessment report of the underlying causes of biodiversity loss, determinants of transformative change and options for achieving the 2050 Vision for Biodiversity“. Der Bericht umfasst 467 Seiten, und allein die Zusammenfassung für Entscheidungsräger:innen hat mehr als 50 Seiten. Darum wird dieser Blogbeitrag in mehreren Teilen erscheinen.
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Der Weltbiodiversitätsrat
Ähnlich wie der IPCC gibt auch IPBES Sachstandsberichte heraus, die Entscheidungsträger:innen Grundlagen für politisches Handeln liefern sollen. Die „zwischenstaatliche Plattform für Biodiversität und Ökosystemdienstleistungen“ (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services ) ist ein unabhängiges zwischenstaatliches Gremium, das 2012 von ursprünglich 94 Staaten als Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft im Bereich Biodiversität gegründet wurde. IPBES ist zwar kein Gremium der Vereinten Nationen, aber das Uno-Umweltprogramm UNEP übernimmt die Sekretariatsaufgaben für IPBES. Heute hat IPBES 149 Mitgliedsstaaten, als letzte sind Ruanda und Island beigetreten. Österreich ist schon seit 2013 Mitglied.
Eine Welt des Lebens im Einklang mit der Natur
Es ist natürlich nicht müßiges philosophisches Interesse, das diese Arbeit geleitet hat. Denn um die globalen, miteinander verbundenen Krisen im Zusammenhang mit dem Verlust der biologischen Vielfalt, dem Niedergang der Natur und dem prognostizierten Zusammenbruch wichtiger Ökosystemfunktionen zu bewältigen, sind tiefgreifende Veränderungen für eine gerechte und nachhaltige Welt dringend erforderlich: „Transformativer Wandel ist notwendig, um die Vision für Biodiversität 2050 und die damit verbundenen globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen.“
Die Vision für 2050, die hier angesprochen wird, ist „eine Welt des Lebens im Einklang mit der Natur, in der bis 2050 die biologische Vielfalt wertgeschätzt, erhalten, wiederhergestellt und klug genutzt, Ökosystemleistungen bewahrt, ein gesunder Planet erhalten und ein für alle Menschen lebensnotwendiger Nutzen erbracht werden“. So wurde es 2022 von der 15. Konferenz der Vertragsparteien über die biologische Vielfalt formuliert.
Gesamtgesellschaftlicher Ansatz
Es geht also um mehr als die Errichtung und Ausweitung von Naturschutzgebieten. Ein neues Verhältnis zur Natur ist notwendig, eines, das die Natur nicht als ein Objekt der Aneignung und Ausbeutung behandelt, sondern den Menschen als eingebunden in das Netzwerk des Lebendigen sieht. Um das zu erreichen, so sagt der Bericht, ist ein gesamtgesellschaftlicher Ansatz notwendig: Veränderungen von ökonomischen, kulturellen, politischen und sozialen Strukturen, Veränderungen von persönlichen Werten und Weltsichten und die Ermächtigung von derzeit marginalisierten Gruppen. Denn einem Wandel hin zu einem Leben im Einklang mit der Natur stehen mächtige Hindernisse im Weg:
Ökonomische und politische Ungleichheit unterminiert Strategien zur Erhaltung, Wiederherstellung und nachhaltigen Nutzung von Natur und Biodiversität. Machtkonzentration und Reichtum führen dazu, dass die Wohlhabenden für eine unverhältnismäßige Nutzung natürlicher Ressourcen, einen nicht nachhaltigen Konsum und die damit verbundenen Umweltauswirkungen verantwortlich sind.
Mächtige Akteure und Interessengruppen haben die Möglichkeit, gegen Maßnahmen, die ihre Privilegien einschränken, Widerstand zu leisten. Man denke nur an die Verwüstungen, die Bergwerksunternehmen oder Ölgesellschaften in bisher intakten Ökosystemen und sozialen Strukturen anrichten, und daran, wie sie Geld und Macht einsetzen, um Maßnahmen zum Schutz von Menschen und Natur zu verhindern. Das reicht von politischem Lobbying bis zum Kauf von Politikern und zum Einsatz von Gewalt gegen Zivilist:innen, Aktivist:innen und Umweltschützer:innen, die gegen umweltzerstörerische Aktivitäten wie Abholzung, Staudammbau oder Bergbau kämpfen, und auch gegen Journalist:innen, die über solche Konflikte berichten.
Schätzungen zufolge wurden zwischen 2012 und 2022 rund 2.000 Menschen in solchen Konflikten getötet, etwa ein Drittel davon Angehörige indigener Völker. Umweltschützer:innen sind zudem Opfer von Vertreibung, Repression, Kriminalisierung, Schikanen und digitalen Angriffen.
Gleichberechtigung und Gerechtigkeit
Während Reiche und Mächtige ihre Privilegien verteidigen, können marginalisierte Bevölkerungsgruppen Maßnahmen zum Schutz oder zur Wiederherstellung von Ökosystemen als unzumutbare Belastung ansehen, zum Beispiel, wenn sie fürchten, dass Veränderungen zum Verlust von Arbeitsplätzen führen könnten. Von Armut betroffene Bevölkerungsgruppen haben manchmal Überlebensstrategien, die zur Umweltzerstörung führen, zum Beispiel, wenn sie zur Abholzung beitragen, weil ihre einzige Energiequelle zum Kochen und Heizen Holz oder Holzkohle sind. Darum betont der Bericht auch, dass alle Maßnahmen auf Gleichberechtigung und Gerechtigkeit beruhen müssen, wenn sie Erfolg haben sollen… weiterlesen