Weg aus der Katastrophe: Lob der kleinen Schritte

Weg aus der Katastrophe: Lob der kleinen Schritte
zeit.de: Das ständige Beschwören einer nahenden Ökokatastrophe erschwert den Blick auf die vielen Erfolge – und macht die Menschen mutlos.
Wie würden Sie in der folgenden Situation handeln? Alle Nachrichtenkanäle verkünden, dass die Erde von einer außerirdischen Spezies übernommen und die Menschheit ausgelöscht werden wird. Diese Fremden sind uns technologisch Lichtjahre voraus und damit kaum zu schlagen – allerdings erreichen sie die Erde erst in 400 Jahren. Menschen, die heute leben, werden von der Katastrophe also nicht betroffen sein und auch nicht deren Kinder.
Was wie ein Plot aus einem Science-Fiction-Roman klingt, ist auch einer: die Trisolaris-Trilogie des chinesischen Autors Cixin Liu. Ein Spiel mit Angst und Hoffnung, das zeigt, wie wichtig die Zukunft, oder was man dafür hält, für die psychische Gesundheit ist: Viele Menschen in Lius Erzählung verlieren, kurz nachdem die Sache mit den Aliens bekannt wird, die Zuversicht. Sie feiern opulente Partys oder werden krank beim Versuch, die Bedrohung einfach zu ignorieren. Und immer wieder stellt sich die eine Frage: Wie verhält man sich richtig, um an der Zukunft nicht irre zu werden?Ersetzt man „Außerirdische“ durch „ökologische Katastrophe“, so ist die Parallele sofort ersichtlich: Auch die reale Welt steht den Nachrichten zufolge vor einer düsteren Zukunft. Klimakrise und Artensterben verschärfen sich. Mit immer genaueren Daten prognostiziert die Wissenschaft die Zerstörung weiter Teile des Planeten. Und genau wie in der Science-Fiction gilt auch im echten Leben: Je unausweichlicher das Unglück scheint, desto mehr Menschen geben auf oder wenden sich ab. Die Zahl der Depressiven nimmt weltweit zu. Und immer weniger Leute wählen zum Beispiel Parteien, die die Umwelt schützen wollen; Zulauf erleben Populisten, die die Rückkehr in eine Vergangenheit versprechen, die es so nie gab. Oder gehen überhaupt nicht mehr zur Wahl.
Beispiele für Problemlösungen
Hat die Menschheit also ihren Untergang beschlossen? Wer das bejaht, macht einen entscheidenden Fehler. Er blickt auf die Menge und übersieht dabei den Menschen. Er verallgemeinert die Trumps dieser Welt und unterschlägt, dass sich weltweit Hunderttausende für die Rettung der Natur, des Klimas engagieren – und damit der Menschheit (auch wenn sie das selbst so nie sagen würden). Und er übersieht etwas, das die Geschichte immer wieder geprägt hat: die Fähigkeit von Menschen, sich selbst zu überraschen und die Zukunft unerwartet zu verändern.
So wie Wuseltronik. Dieses Ingenieurkollektiv hatte sich Ende der 1970er-Jahre in einem Berliner Hinterhof gegründet, mit all den üblichen Zugaben: lange Haare, Latzhosen, Gemeinschaftsküche und wilde Ideen zur Überwindung des Kapitalismus. Der Journalist Michael Bukowski hat die kreative Szene der Solarbastler in seinem Buch Deutsches Sonnenmärchen amüsant seziert. Das Kollektiv aus Kreuzberg entwickelte erst tragbare Solarkühlgeräte und Solarwechselrichter und schließlich Solarzellen. Ernst nahm das anfangs kaum jemand, jedenfalls niemand mit Geld oder Macht. Die Ingenieure aber machten weiter, gründeten 1999 Q-Cells in Sachsen-Anhalt und schufen so einen der damals weltweit führenden Solarproduzenten.
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Zum globalen Erfolg geriet die Geschichte der Solarindustrie dann erst in China. Dort wurden im ersten Halbjahr 2025 doppelt so viel Solarpanels produziert wie im gesamten Rest der Welt. Wirtschaftspolitisch ist das für Deutschland bitter, klimapolitisch aber ist es für die Welt ein Segen. Das Gleiche gilt für die Elektromobilität. Im vergangenen Jahr wurden 70 Prozent der E-Autos in China produziert, der chinesische Hersteller BYD liegt vor dem US-Konkurrenten Tesla und noch deutlicher vor den deutschen Produzenten.
Der Mechanismus, der so etwas möglich macht, ist immer derselbe: Jemand hat eine kleine Idee, entwickelt sie gegen alle Widerstände weiter und beginnt die Produktion. Andere machen nach oder weiter, das Angebot wächst, und die Produkte verändern schließlich zuerst die Wirtschaft und dann die Welt. Oder konkret: Wuseltronik und andere Start-ups, die damals noch nicht so hießen, machten die globale Energiewende überhaupt erst möglich, den Umstieg von Gas und Öl auf grünen Strom. Und dadurch besteht die Chance, dass die Klimakrise doch nicht zur Katastrophe wird. Hätte einer das in den 1970er-Jahren auf irgendeinem Unternehmertag laut gesagt, er wäre nicht mal ausgelacht, sondern nur mitleidig belächelt worden.
Wie viel kann eine Idee bewirken?
So geht es auch heute noch mancher Initiative, die sich schier Unmögliches vorgenommen hat: Dem Green Belt Movement, das quer durch Afrika die Ausbreitung der Sahara stoppen will und deswegen einen 8.000 Kilometer langen Streifen aus Bäumen pflanzt. Ocean Cleanup oder die SeaCleaners, die das Meer vom Plastik befreien wollen. Dem BaumEntscheid in Berlin, einer Initiative, die den Berliner Senat erfolgreich dazu gedrängt hat, in den kommenden Jahren mehr Grün in die Stadt und vor allem die armen Viertel zu bringen, damit es dort im Sommer nicht ganz so heiß wird und weniger Menschen infolge von Hitze sterben. Und damit Klimaschutz nicht nur ein Luxus der Reichen bleibt.
Es gibt noch ungezählte weitere Beispiele: Um ihren Lesern wieder Mut zu machen, berichtet die New York Times inzwischen regelmäßig über grüne Initiativen aus allen amerikanischen Bundesstaaten. Die Suchmaschine Ecosia lobt gerade eine Million Euro für einen neuen Nobelpreis aus; er soll die beste Klimainitiative des Jahres berühmt machen.
Die meisten dieser Initiativen, Erfindungen und Ideen sind örtlich begrenzt und werden wohl auch in ihrer Wirkung klein bleiben. Nur, genau so funktioniert Fortschritt. Er entsteht dadurch, dass viele Menschen Neues ausprobieren oder umsetzen, manche scheitern und andere weitermachen. Das ist oft unspektakulär. Vor allem aber ist es viel Arbeit.
Schönes Märchen?
Die Leute aus Bracht wissen das nur zu gut. Das Dorf in Mittelhessen hat sich kürzlich beim Bau der Wärmeversorgung unabhängig von Öl und Gas gemacht, nach nur zwei Jahren Bauzeit. Heute gibt es eine Solarthermieanlage, 855 Solarkollektoren, einen Wärmespeicher und ein Nahwärmenetz. Und der Schlüssel zum Erfolg war viel ehrenamtliches Engagement.
Schönes Märchen? Wer mit Einzelbeispielen gegen die große Ökokatastrophe argumentiert, fängt sich schnell den Vorwurf ein, unterkomplex zu argumentieren. Denn dagegen steht ja nicht nur, dass alles Konkrete unzureichend ist und oft neue, ungewollte Nebenwirkungen hat (auch für die Fertigung von Solarzellen sind Rohstoffe nötig). Sondern auch ein wissenschaftlicher Determinismus, der mit nackten Zahlen den Untergang der Menschheit oder zumindest großer Teile prognostiziert: Klimafolgenforscher sagen heute sehr genau voraus, wie und wann Gletscher schmelzen oder wann der Meeresspiegel die Küsten in Schleswig-Holstein bedroht und Urwälder mehr Kohlendioxid ausstoßen, als sie binden. Und Biologen tracken bedrohte Tiere immer besser und wissen so ziemlich genau, ab welchem Zeitpunkt die letzten ihrer Art gestorben sind.
Nur, so genau die Wissenschaft bei der Vorhersage solcher naturwissenschaftlichen Phänomene ist, so schlecht war und ist sie bei der Voraussage des menschlichen Verhaltens, der politischen Disruptionen und neuer Erfindungen… weiterlesen


