Der Planet denkt um

Der Planet denkt um
Vorwarnung an die Leser: Wer dieses Buch in die Hand nimmt, muss sich entscheiden, ob er weiter im gewohnten Denken und in gewohnten Strukturen verhaftet bleiben will. Wer am Beharren festhält, sollte es vielleicht besser wieder zur Seite legen. Wer jedoch den Mut aufbringt, sich auf Neues einzulassen, sollte versuchen, einen begrifflichen Reset-Knopf zu drücken. Der Leser oder die Leserin wird herausgefordert, sich mit bekannten Worten auseinanderzusetzen, die jedoch mit neuen Inhalten gefüllt werden. Gewohntes wird über- und neugeformt.
Doch dann beginnt eine Geschichte in dreißig Geschichten – die jedoch einunddreißig Geschichten enthält, nämlich die Vorgeschichte. Sie beruhen auf wissenschaftlichen und anthropologischen Recherchen, sowie persönlichen Erfahrungen.
Eine neue Denkweise für die Welt
Es beginnt eigentlich ganz gewöhnlich mit einigen Zeilen des Dichters Eichendorff: „Schläft ein Lied in allen Dingen …“ Dieses Lied wird zum Wegbegleiter durch die folgenden knapp 270 Seiten. Die schönen Zeilen werden zum Analysetool für unsere Welt, die sich durch Attraktivität, Polarität und Kreativität entwickelt hat – und aus der heraus sie fortbesteht und sogar die Reflexion dieser Gedanken überlebt.
Verstanden? Ja? Dann wird sich das Schloss auftun in eine Welt jenseits von Glauben und Wissenschaft – und das, obwohl sie sich genau an den Rändern dieser Themen bewegt. Wenn ich hier erwähne, dass Quantenphysik eine zentrale Rolle spielt, dann wird es vielleicht verständlicher. Denn Steiner spricht indirekt bereits auf Seite 41 Niels Bohrs berühmten Satz: „Wer über die Quantentheorie nicht entsetzt ist, kann sie unmöglich verstanden haben.“ Diesen wird er auf Seite 195 konkret zitieren.
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Daraus folgert Steiner die Notwendigkeit eines flexiblen Denkens. Ein Hinterfragen, wie es kleine Kinder tun – ohne Scheu und Angst vor Lächerlichkeit. „Sind nicht die letzten Fragen die allerersten?“ Es geht darum, Gedankenschranken zu überwinden, die uns daran hindern, die Freiheit des Denkens jenseits des Zufalls zu akzeptieren. Schließlich fällt es einem zu, wenn man etwas erkennt.
Sätze wie „Von nichts knallt nicht. Von gar Nichts kann auch nichts Urknallen“ oder Einsteins berühmtes „Der Herrgott würfelt nicht“ zeigen, dass Steiner akribisch nach einem schlüssigen Ursache-Wirkungskonzept sucht. Dabei „schürft“ er in den unterschiedlichsten Bereichen nach Erkenntnissen – sei es in der Naturwissenschaft, der Philosophie oder der Sozialkritik.
Die Welt in Balance – und wo sie aus dem Gleichgewicht gerät
Steiner kommt bei seiner Analyse auch nicht an den drängenden Problemen unserer Zeit vorbei. Ähnlich wie Adorno und Horkheimer sieht er die Wurzeln vieler Fehlentwicklungen in der Aufklärung. Doch anders als eine pessimistische Kulturkritik setzt er auf Verbindung statt Trennung. Er verurteilt die Ausbeutung von Natur und Mensch und identifiziert „unsere missverstandene Rationalität, die sich als instrumentalisierte Vernunft erweist, also als grandiose Unvernunft“ als eine der größten Probleme unserer Zeit:
„Schaffe mit dem geringstmöglichen Aufwand in der kürzesten möglichen Zeit den größtmöglichen Erfolg.“ (S. 75)
Dieses Denken zerstört die natürliche Balance der Welt. Doch für den Autor und Wissenschaftsjournalisten ist die Balance essenziell – sei es zwischen Wissen und Möglichem, zwischen Zeit und Zeitlosigkeit, zwischen Materie und Nichts, zwischen Physik und Metaphysik.
Auch soziale Strukturen betrachtet er unter diesem Gesichtspunkt. In der Natur heißt das Prinzip Diversität, in menschlichen Gesellschaften Demokratie. Er schreibt:
„Multipolarität ist Diversität. Nach den Gesetzen der Evolution wäre eine multipolare Balance ohne Dominanz – bei innerstaatlicher Anerkennung der Menschenrechte, wie nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gefunden – der weise Weg. Denn solche Konstellationen wären in ihrem Gleichgewicht eine Adaption natürlicher Selbstorganisation.“ (S. 109)
Das alles zusammen bildet für Steiner eine Schönheit in der Balance der Unterschiedlichkeit. Dies bringt das Leben voran. Daher kann er den ersten Teil des Buches mit den Worten beenden:
„Denn die Welt ist nur so lange für uns attraktiv, solange sie auch uns attraktiv findet.“ (S. 138)
Worte der Aufforderung und Mahnung – aber auch der Zuversicht und Hoffnung.
Vom Grundgesetz der Evolution zum Rätsel des Bewusstseins
Während der erste Teil des Buches unter der Überschrift Das Grundgesetz der Evolution steht, folgt mit einem inhaltlich harten Schnitt Das Rätsel des Bewusstseins. Waren die Übergänge zuvor fließend und angenehm lesbar, so wird man hier eruptiv in ein neues Themengebiet geworfen.
Plötzlich geht es nicht mehr um Schönheit und Gefühl, sondern um die kognitive Evolution: Kann die Erde denken? Der Leser beginnt eine Reise durch die Evolution des Menschen.
Hier findet Steiner zu einer zentralen Erkenntnis, die er mit Wolf Singer untermauert:
„Der Mensch versteht die Quantenphysik deshalb nicht, weil es für das Hirn nur den Evolutionsdruck einer optimalen Anpassung an die Umwelt gab, um zu überleben …“ (S. 177)
Das bedeutet: Unsere Denkweise ist auf das Sichtbare, Greifbare beschränkt – aber die Realität ist vielschichtiger.
So wie die Quantenmechanik für uns schwer vorstellbar ist, so auch das exponentielle Wachstum. Um es begreiflich zu machen, greift Steiner auf die berühmte indische Legende des Schachspiels zurück. Wie sich das Korn auf den 64 Feldern exponentiell vermehrt, so entzieht sich auch die Komplexität der Welt unserem linear geprägten Denken.
Daher sei es nötig, in kleinen Schritten zu handeln – abwägend, reflektierend, wachsam.
Künstliche Intelligenz und das psychische Klima der Gesellschaft
Der dritte Teil beginnt mit dem Thema Künstliche Intelligenz. Er vergleicht ihre Herausforderungen mit denen der Atomkraft, weist aber darauf hin, dass KI noch subtiler und tiefer in die Gesellschaft eingreifen wird als jede Technologie zuvor.
Weiter kritisiert er, dass der unabhängige Journalismus immer weiter zurückgedrängt wird – durch marktwirtschaftliche Interessen und durch eine mediale Scheinvielfalt in sozialen Netzwerken. Diese dringen wie Neophyten in das gewachsene Mediensystem ein und verdrängen unabhängige journalistische Stimmen. Die „Erhitzung des weltweiten psychischen Klimas“ führt zur gesellschaftlichen Erschöpfung – zum Burn-out der Zivilisation.
Die Natur als Lehrmeisterin einer nachhaltigen Zukunft
Dem muss entgegengewirkt werden. Unsere rational-wirtschaftliche Fokussierung zerstört Vielfalt und Lebendigkeit. Steiner plädiert für ein Buen Vivir, ein gutes Leben im Sinne indigener Weisheiten: Statt ein Internet der Dinge brauchen wir ein Netzwerk des Lebens.
In der Diversität steckt Stabilität und damit Zukunft. Wie die Gravitation der Planeten durch ihre Bahnen das Universum stabilisiert, so braucht es auch gesellschaftlich Unterschiede, um neues Leben hervorzubringen.
Steiner kommt schließlich zu einem radikalen Schluss: Die anziehende Attraktivität, nicht nur optisch, ist der Code des Universums. Die Medaille des Seins hat zwei Seiten: Schönheit und Anziehung.
Ein Buch für Mutige
Dieses mutige Buch von Tilman Steiner ist für mutige Menschen geschrieben, die bereit sind sich auf eine Odyssee zu begeben, an deren Ende sie andere sein werden, sollten sie sich auf das darin Geschriebene einlassen. „Die unsichtbare Wirklichkeit der Naturgesetze gestaltet die sichtbare Wirklichkeit“, so Steiner. Ob die Naturgesetze einen Gesetzgeber haben, überlässt er der Inspiration und Interpretation des Lesenden. Der Leser oder die Leserin wird geistige, mentale und spirituelle Abenteuer bestehen müssen, wenn er zum Schluss im Einklang mit der Liebe ankommen will. Worte werden auf den knapp 300 Seiten zu Kosmen, Geschichten zu Atomen oder Quanten gedrückt, um durch kleine Ritzen des Geistes in einen einzudringen. Durch Vielfalt zur Einheit in der Liebe zum Sein würde uns Menschen mit der Natur im Kosmos verbinden und die Verantwortung unserer Existenz begründen. „Der Planet denkt um“, und das sind wir, um als Menschheit zu überleben, weil wir unseren Teil – unseren Quant – dazu beitragen.
Helmut Scheel

Tilman Steiner
Der Planet denkt um
ÜBERLEBEN mit dem
Grundgesetz der Natur
288 Seiten
Fink, 2025