Giftiger als Glyphosat, nicht deklariert, frei erhältlich

Giftiger als Glyphosat, nicht deklariert, frei erhältlich
Foto: Pixabay CC0

Giftiger als Glyphosat, nicht deklariert, frei erhältlich

Tobias Tscherrig für InfoSperber

Wissenschaftler finden nicht deklarierte toxische Verbindungen in Pestiziden. Die EU- Zulassungsbehörde habe versagt.

Während einer Arbeit an einer Studie finden Wissenschaftler bei vierzehn in der EU frei erhältlichen Pestiziden undeklarierte Stoffe, die allesamt genauso giftig oder giftiger als «Glyphosat» sind. Die gefundenen Mengen überschreiten die von den internationalen Gesundheitsbehörden definierten Toxizitätsschwellenwerte. Die Studienautoren sprechen von «Betrug», knapp 120 Abgeordnete des Europäischen Parlaments werfen der für die Zulassungen zuständigen Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) Versagen vor und fordern dringend Massnahmen.

Es geht nicht «nur» um «Glyphosat»

Die Diskussion um die Schädlichkeit von Pestiziden wird seit Jahren von Debatten über den von der Bayer AG (vormals Monsanto) vertriebenen Unkrautvernichter «Roundup» und die darin enthaltene chemische Verbindung «Glyphosat» dominiert. Kein Wunder, denn «Glyphosat» ist weltweit der mengenmässig bedeutsamste Inhaltsstoff von Herbiziden.

Ob «Glyphosat» aber Krebs erzeugt oder die Krebserzeugung fördern kann, ist nach wie vor umstritten. Zwar gibt es zahlreiche Anzeichen aus den verschiedensten Einsatzgebieten, mehrere US-Gerichte und auch die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC) bewerten es als «wahrscheinlich krebserregend». Andere Organisationen und Behörden, darunter zum Beispiel die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), kommen zu gegenteiligen Schlüssen, was teilweise auch auf unterschiedliche Vorgehensweisen bei der Bewertung zurückgeführt wird. Und diverse Skandale wegen industriefinanzierten Studien und nachlässigen Behörden, die bei der Zulassung des Wirkstoffs schlichtweg daraus abgeschrieben hatten, haben kaum dazu beigetragen, dem Hickhack um «Glyphosat» ein Ende zu setzen. Immerhin – Produkte, die Glyphosat enthalten, wurden inzwischen in einigen Ländern verboten. Andere werden folgen, die Schweiz ist bisher nicht dabei.

Genauso giftig – oder giftiger als «Glyphosat»

Die Diskussion um «Glyphosat» ist wichtig – nur nimmt sie im Kampf gegen Gifte in Pestiziden, die für den Menschen schädlich sind, zu viel Raum ein. Zu leicht gehen andere Produkte vergessen, die mindestens so schädlich, wenn nicht deutlich schädlicher sind. Eine neue Studie zeigt das eindrücklich: Ende November 2020 veröffentlichten die Biologen Gilles-Éric Séralini und Jungers Gerald in der wissenschaftlichen Zeitschrift «Food and Chemical Toxicology» eine Studie, in der sie die Moleküle untersuchten, aus denen vierzehn Pestizide oder Herbizide für den allgemeinen Gebrauch bestehen. Alle untersuchten Produkte sind als frei von «Glyphosat» zertifiziert und sind ohne Einschränkungen auf dem europäischen Markt erhältlich. Ein Gang ins nächste Gartencenter genügt.

Die zusammengefassten Ergebnisse der Studie: Die untersuchten Produkte (von Monsanto, Compo, Jade, Target, Bross) enthalten allesamt andere Inhaltsstoffe, die genauso giftig oder sogar noch giftiger sind als das berühmte «Glyphosat». Die gefundenen Stoffe, darunter krebserregende Erdölrückstände wie Benzo(a)pyren oder Schwermetalle wie Blei, Nickel, Silizium, Zink, Titan oder Arsen wurden dabei jeweils in Mengen nachgewiesen, die die von internationalen Gesundheitsbehörden definierten Toxizitätsschwellenwerte überschreiten.

«Diese unterschiedlichen Mengen an nicht deklarierten giftigen Chemikalien verstossen gegen die Pestizidvorschriften der Europäischen Union und können gesundheitliche und ökologische Folgen haben, insbesondere bei langfristiger Exposition», schreiben die Forscher in ihrer Arbeit. «Das ist eine potenziell brisante Entdeckung für den Pflanzenschutzmarkt und die Behörden, die ihn regulieren», kommentieren französische Medien, die als erstes über die Studie berichtet hatten.

«Aufsichtsbehörde hat versagt»

Am 25. Februar haben knapp 120 Abgeordnete des Europäischen Parlaments auf die wissenschaftliche Arbeit reagiert. Sie forderten die für die Zulassung dieser Chemikalien zuständige Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (ETSA) auf, die betroffenen vierzehn Pestizide ordnungsgemäss auf toxische Substanzen zu prüfen.

Nach Ansicht der Abgeordneten hat die ETSA als Zulassungsbehörde versagt, da sie in der Vergangenheit weder andere Substanzen als «Glyphosat», noch den «Cocktail-Effekt», der durch die Kombination verschiedener Moleküle entsteht, berücksichtigt habe. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2019 verlange aber, dass sich die ETSA bei ihren Bewertungen nicht auf einzelne Wirkstoffe wie «Glyphosat» beschränken dürfe – sondern diese auch zusammen mit den Verbindungen analysieren müsse, die beim Mischen eines Produkts entstehen. «Die Verfahren, die zur Zulassung eines Pflanzenschutzmittels führen, müssen neben der Bewertung der eigentlichen Wirkstoffe zwingend auch eine Bewertung der kumulativen Wirkungen dieser Stoffe und ihrer kumulativen Wirkungen mit anderen Bestandteilen dieses Mittels umfassen», so das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom Oktober 2019.

In einem Schreiben kritisieren die EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentarier, dass die «ETSA die vom europäischen Gesetzgeber vorgeschriebene Methode nicht richtig anwendet.» Sie fordern die ETSA auf, auch den «Cocktail-Effekt» bei Zulassungsverfahren zu berücksichtigen – und das ab dem Verfahren der Zulassung oder Erneuerung eines deklarierten Wirkstoffs. Daneben fordern sie von der europäischen Behörde, «die Veröffentlichung der Rohdaten, Artikel und Referenzen sicherzustellen, auf die die EFSA ihre Bewertungen stützt».

«Das ist Betrug»

Gilles-Éric Séralini, Mitverfasser der wissenschaftlichen Publikation, spricht von «Betrug», weil Pestizide und Insektizide ohne Hinweis auf ihre Toxizität verkauft werden. Die ETSA sei sich durchaus bewusst, dass «die Hersteller nicht die gesamte Zusammensetzung ihrer Produkte deklarieren». Das sei ein «wissenschaftliches Zugeständnis».

Neun Umweltorganisationen aus Frankreich haben in der Zwischenzeit reagiert: Anfang Dezember reichten sie eine Klage wegen «Etikettenschwindel, Gefährdung des Lebens anderer und Schädigung der Umwelt» ein.

Behörde spielt Ball zurück an Mitgliedsstaaten

Als die EFSA von den Parlamentariern zum Sachverhalt befragt wurde, schickte sie ihre Antworten auch an die Medien. In der Medienmitteilung wies sie darauf hin, dass sie aufgrund der europäischen Gesetzgebung für Pestizide verpflichtet ist, «isolierte Wirkstoffe und nicht Pestizid-Formeln» zu bewerten. Als das französische Online-Magazin «mediapart» auf das Urteil des Europäischen Gerichtshof hinwies, erhielten die Journalisten keine Antworten auf die gestellten Fragen.

Für die Bewertung der Pestizid-Formeln spielte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit den Ball dann zurück an die einzelnen Mitgliedstaaten. Diese haben die Befugnis, die Zulassung auf nationaler Ebene zu erteilen oder zu verweigern. Die Frage der europäischen Regulierung von Pestiziden ist jedoch von entscheidender Bedeutung, da sie in hohem Mass die nationale Politik in Bezug auf Pflanzenschutzmittel bestimmt. Die jeweiligen Zulassungsbehörden der Mitgliedstaaten stützen sich bei ihren Zulassungen oft auf die Gutachten der ETSA. Ein Teufelskreis, in dem die Zulassungsbehörden die Verantwortlichkeiten jeweils weiterschieben.

Die ETSA ist nun verpflichtet, innerhalb von zwei Monaten auf das Schreiben der EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier zu antworten. Für diese ist das aber erst der Anfang. Notfalls werde sich das Europäische Parlament mit dem Fall befassen müssen, auch der Gang vor den Europäischen Gerichtshof sei denkbar.

Die Studie „Toxic compounds in herbicides without glyphosate“: https://doi.org/10.1016/j.fct.2020.111770

Den Originalartikel kann man bei InfoSperber nachlesen

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