Kapitalismus hacken: Anstiftung zum Systemwandel
Kapitalismus hacken: Anstiftung zum Systemwandel
enorm-magazin.de: Der exzessive Wachstumskurs unseres neoliberalen Kapitalismus produziert Krisen wie am Fließband: Finanzkrisen, Klimakatastrophe, Artensterben, Pandemie. Wann kommt der Systemwandel – oder sind wir schon mittendrin?
In einem kleinen Bergdorf in der Schweiz traf sich vor gut 70 Jahren ein Thinktank neoliberaler Ökonomen. Ihre Ideen galten als radikal. Die nach dem Ort benannte Mont Pèlerin Society aber wusste, sie brauchte nur konkrete Strategien auszuarbeiten und dann abzuwarten. „Allein eine Krise – tatsächlich oder wahrgenommen – führt zu echter Veränderung“, schrieb das Gründungsmitglied Milton Friedman 1962 in seinem Buch Capitalism and Freedom. Wenn sich eine Krise abzeichne, seien die Handlungen, die angestoßen würden, abhängig von den Alternativideen, die herumlägen – von den „ideas that are lying around“.
Als sich in den 1970er-Jahren die erste Ölpreiskrise anbahnte, lagen die neoliberalen Ideen des Thinktanks herum. Die konservativen Staatschef:innen Margaret Thatcher und Ronald Reagan und später US-Präsident Bill Clinton und SPD-Kanzler Gerhard Schröder griffen sie auf – und der neoliberale Kapitalismus war geboren. Er sollte die Wirtschaft durch Deregulierung und die Privatisierung staatlicher Aufgaben aus den „Fesseln“ des Wohlfahrtsstaats befreien, der im Sinne der sozialen Marktwirtschaft „Wohlstand für alle“ versprach. In den USA und in Großbritannien sanken die Steuern und Lohnkosten in den 1980er-Jahren, staatliche Leistungen wurden gekürzt. In Deutschland sollte ab 2003 das Reformprogramm „Agenda 2010“ laut Bundeskanzler Gerhard Schröder zu „mehr Eigenverantwortung“ auf dem Arbeitsmarkt führen, ermöglichte aber vor allem Dumpinglöhne. 2017 stellte das Bundeswirtschaftsministerium fest: In den unteren Einkommensschichten verdienen 40 Prozent der Deutschen weniger als 20 Jahre zuvor, während Gutverdiener:innen und Kapitalbesitzer:innen reicher geworden sind. Weltweit besitzen die reichsten 85 Menschen so viel wie die ärmsten 3,5 Milliarden. Die reichsten zehn Prozent verursachen mehr als die Hälfte der globalen Treibhausgase. Wer wenig besitzt, wird im Neoliberalismus persönlich dafür verantwortlich gemacht.
Mensch vor Profit
Die radikalen Gegenentwürfe zum Neoliberalismus besinnen sich zurück auf das Wohl der Menschen und des Planeten, anstelle des Strebens nach Wachstum um jeden Preis. Entsprechende Alternativen tragen Namen wie Gemeinwohl-Ökonomie, Donut-Ökonomie oder Postwachstumsökonomie und sind geprägt von den Ideen einer neuen Generation von Vordenkerinnen. Die italienisch-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato, Autorin des Buchs Mission Economy, wirbt für einen starken Staat, der die Wirtschaft zum „Moonshot“ anspornt. Ihr Vorbild: John F. Kennedys Apollo-Mission der 1960er-Jahre, deren Erfolg aus einer engen Partnerschaft zwischen Regierung und Wirtschaft resultierte. Oxford-Ökonomin Kate Raworth denkt in ihrem Entwurf einer Kreislaufwirtschaft, dem „Donut-Modell“, ökologische und soziale Nachhaltigkeit zusammen. US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez macht sich für Klimagerechtigkeit im Rahmen eines „Green New Deal“ stark.
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Alle Ansätze haben die Vision einer regenerativen, ethischen Wirtschaftslogik gemeinsam, die hinterfragt, wie sinnvoll ein Produkt ist, wie ökologisch es produziert wird und wie human die Arbeitsbedingungen sind. Denn das Ende des fossilen Zeitalters, auf dem unser Hyperkapitalismus fußt, ist unausweichlich. Nur, wie kommen wir dorthin?
Unser Problem sei nicht das Ziel, sondern die Transformation, sagte Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann 2017 in einer Vorlesung zur Postwachstumsökonomie. Was uns fehle, seien „Modelle von oben“, die auf einer Zeitachse modellierten, wovon Menschen künftig leben sollen, die in „schmutzigen“ Branchen arbeiten – etwa VW-Mitarbeiter:innen, Angestellte des Frankfurter Flughafens, Tankstellenbesitzer:innen.
Wir können uns nichts Besseres vorstellen
Die Mont Pèlerin Society hielt sich nicht jahrelang damit auf, ihre Ideen und Ideologien zu diskutieren, sondern wandelte sie in Gesetzesvorschläge um und vernetzte sich gezielt mit Entscheidungsträger:innen wie Reagan und Thatcher. Die Weichen waren längst gestellt, als es in den 1970er-Jahren zu Inflationen kam. Im Gegensatz dazu erlebten wir drei globale Krisen innerhalb von nur zehn Jahren – ohne, dass sich etwas änderte. Die Dotcom-Krise (ab 2000), die Bankenkrise (ab 2007) und die Eurokrise (ab 2008) gingen fast spurlos am System vorbei, weil die Alternativen nicht konkret genug waren – und wir sie uns nicht vorstellen konnten. „Die Geschichte zeigt uns, dass es anders geht. Trotzdem können sich viele Menschen nur schwer vorstellen, in einem anti- kapitalistischen System zu leben. Aber alles, was Menschen geschaffen haben, kann auch durch Menschen verändert werden“, sagt der niederländische Historiker und Journalist Rutger Bregman.
Entgegen der Hybris mächtiger Industriestaaten habe die Menschheit mit dem neoliberalen Kapitalismus und der Demokratie nicht das „höchste Entwicklungsstadium“ ihrer Spezies erreicht. Bregman plädiert in seinem Buch Utopien für Realisten für ein Bedingungsloses Grundeinkommen, für die 15-Stunden-Woche und die Besteuerung des Kapitals statt der Arbeit, weil es radikale Visionen brauche, um in einer „radikalen Wirklichkeit“ voranzukommen. Er sagt: „Die Richtung, in die wir weltweit gehen, ist auf jeden Fall anders als noch 2008. Das kommt auch durch die Coronakrise.“ weiterlesen