Klimaschutz: 1,5 Gradziel dürfen wir nicht aufgeben

Klimaschutz: 1,5 Gradziel dürfen wir nicht aufgeben
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Klimaschutz: 1,5 Gradziel dürfen wir nicht aufgeben

zeit.de: Das 1,5-Grad-Ziel für tot zu erklären, ist eine fatale Fehleinschätzung. Auch wenn es kaum erreichbar scheint: Echter Klimaschutz macht es so realistisch wie nie zuvor. Ein Gastbeitrag von Johan Rockström und Carl-Friedrich Schleußner

Es sei nicht mehr plausibel, das 1,5-Grad-Ziel noch zu erreichen – in den vergangenen Wochen und Monaten spitzt sich diese Einschätzung unter Dutzenden internationalen Wissenschaftlerinnen und Forschen zu. Ist es jetzt Zeit, sich einzugestehen, dass 1,5 Grad tot sind? Nein, schreiben die Klimawissenschaftler Johan Rockström und Carl-Friedrich Schleußner. Das wäre kein Weckruf, sondern ein Rückschritt.

1,5 to survive“ – unter diesem Slogan haben über 100 Staaten aus dem Globalen Süden dafür gekämpft, die 1,5 Grad im Pariser Abkommen zu verankern. Allen voran die kleinen Inselstaaten und die am wenigsten entwickelten Länder. Nicht als ihr Ziel. Sondern als die Obergrenze, den finalen Kompromiss, den sie bereit waren, mitzutragen. Soweit man mit dem eigenen Überleben Kompromisse schließen kann.In Paris hatte man das verstanden. Das Pariser Abkommen war das Zeichen, dass die Welt bereit ist, im Klimaschutz zusammenzustehen. Doch das war 2015. Und jetzt? Mit jedem Jahr, das verstreicht, ohne dass die globalen Emissionen sinken, rückt dieses Ziel weiter in die Ferne. Dass in dieser Situation die Stimmen lauter werden, die die 1,5-Grad-Grenze infrage stellen, einige das Ziel gleich ganz für tot erklären wollen, ist nachvollziehbar. Aber es ist eine fatale Fehleinschätzung. Denn 1,5 Grad sind nicht nur ein politisches Ziel. Sondern sie sind das planetare Limit.

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Die Lage ist deutlich ernster, als beim Pariser Abkommen klar war

Die Hitzewellen, Waldbrände und Fluten, die wir heute, bei etwa 1,2 Grad Erwärmung erleben, sind nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommen könnte. Schon bei 1,5 Grad sind hohe Klimarisiken zu erwarten. Sollten wir die Erde über diese Schwelle hinaus weiter erhitzen, erhöhen sich die Risiken durch Hitzewellen, Dürren, Überflutungen, Ernteausfälle, Ökosystemkollaps und wirtschaftliche Verluste jedoch massiv (IPCC, 2022).

1,5 Grad sind aber auch eine kritische Schwelle für die Stabilität mancher Klimakippelemente wie den polaren Eisschilden. Sollten sie kollabieren, dann wäre ein Anstieg des Meeresspiegels von mehreren Metern vorprogrammiert. Nur wenn wir mittelfristig die Erderwärmung auf unter 1,5 Grad begrenzen, können wir das Risiko für das Überschreiten von Kipppunkten dieser kritischen Systeme noch minimieren. Und eine fatale Kaskade von Kippelementen, die sich gegenseitig verstärken, verhindern. Alles, was über ein geringfügiges und zeitlich begrenztes Überschreiten von 1,5 Grad Celsius hinausgeht, erhöht diese Risiken deutlich (zum Beispiel Wunderling et al. 2022).

Die Klimaforschung hat in den letzten Jahren eine Reihe wesentlicher Erkenntnisse gewonnen, die das politische 1,5-Grad-Ziel weiter untermauern. In seinem neuesten Bericht hat der Weltklimarat seine Risikoabschätzungen deutlich verschärft. Extremwetterereignisse, der Verlust einzigartiger Ökosysteme oder Kipppunkte des Klimasystems manifestieren sich teils bei markant niedrigeren Temperaturen als im vorherigen Bericht des Weltklimarats von 2014 angenommen (IPCC, 2022). Die Lage ist also deutlich ernster, als es die Wissenschaft zum Zeitpunkt des Pariser Abkommens dargestellt hat.

1,5 Grad stehen auch dafür, die Klimaerwärmung so schnell wie irgend möglich zu verlangsamen, um Zeit zu gewinnen. Denn Ökosysteme und Gesellschaften weltweit müssen sich an die Veränderungen des Klimas anpassen. Schon ein Land wie Deutschland hat dabei fundamentale Defizite. Für Milliarden Menschen in den Ländern des Globalen Südens ist die Lage ungleich existenzieller. Ihnen fehlen schlicht die Ressourcen, um den Folgen der Klimakrise wirklich etwas entgegensetzen zu können. Katastrophen wie die Flut in Pakistan im letzten Jahr machen ihre Situation noch schwieriger. Nur wenn es gelingt, die Klimaveränderungen zu verlangsamen, lässt sich dieser Teufelskreis stoppen.Dabei wirkt unser Handeln heute noch weit in die Zukunft. Völlig zu Recht hat sich die globale Jugendbewegung die 1,5 Grad zu eigen gemacht: Denn die 1,5 Grad stehen für den Anspruch, die Klimakrise in einer Generation in den Griff zu bekommen. Die Emissionsreduktionen machen sich erst nach etwa zehn Jahren wirklich bemerkbar. Unter einem 1,5-Grad-Pfad würde sich der Erwärmungstrend in den 2030ern gegenüber heute halbieren und in den 2040ern zum Stillstand kommen (zum Beispiel CONSTRAIN 2022). Machten wir erst nach 2030 ernst mit dem Klimaschutz, würden sich die Klimafolgen bis Mitte des Jahrhunderts fast ungebremst weiter intensivieren. Nur entschlossene Emissionsreduktionen im Hier und Jetzt können in der für die Menschheit so kritischen Phase bis 2050 einen wirklichen Unterschied machen. 

1,5 Grad aufzugeben, heißt, den Klimaschutz aufzuweichen

Die Frage, ob es noch gelingen kann, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, hat keine Ja-Nein- oder schwarz-weiße Antwort. Wir befinden uns längst in einem Graubereich, wo die Menschheit es nicht mehr ganz allein in der Hand hat. Aufgrund von komplexen Prozessen im Klima- und Erdsystem ist es vielmehr eine Frage von Wahrscheinlichkeiten. Oder wie es der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, so treffend formuliert hat: „1,5 Grad liegt auf der Intensivstation.“ Noch ist diese Operation in vollem Gange. Ob es reicht, werden wir erst in einigen Jahren, vielleicht erst in den 2030ern wissen. Die Klimaforschung ist aus guten Gründen sehr darauf bedacht, ihre Erkenntnisse mit den angemessenen Wahrscheinlichkeitsaussagen zu qualifizieren. Und wir können, Stand heute, nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass wir 1,5 Grad sicher überschreiten werden, selbst wenn wir die 2030 Ziele verfehlen sollten. Die Grabrede muss also warten… weiterlesen

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