Kohlenstoffsenke wird zur CO2-Quelle

Kohlenstoffsenke wird zur CO2-Quelle
Das Amazonasgebiet ist aufgrund ungebremster Abholzung »gekippt«. Es emittiert inzwischen mehr Kohlendioxid, als es absorbiert. Das hat jetzt schon verheerende Auswirkungen
Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro
Während im zweiten Jahr der Covid-19-Pandemie Katastrophenhitze und Feuerinferno im Westen der USA und in Kanada sowie Jahrhundertfluten in Deutschland und Belgien mit dem Weltraumflug des Multimilliardärs Jeffrey Bezos im Blätterwald der globalen Massenmedien um die größte Schlagzeile konkurrieren, wird eine der für die Menschheit wichtigsten Nachrichten des 21. Jahrhunderts nur schleppend von den großen Medien registriert und auf hintere Seiten verdrängt: Amazonien ist gekippt. Die scheinbar unendliche Kohlenstoffsenke, die die Klimagasemissionen der Industriestaaten aufsaugt und den Treibhauseffekt ausgleicht, gibt es nicht mehr.
An Warnungen hat es freilich nicht gefehlt. Seit Jahrzehnten fordern brasilianische und internationale Forscher und Umweltschützer einen Stopp der Abholzung des Amazonasregenwalds. Die für das globale Klima wichtige, größte Regenwaldregion der Erde könne ihre Funktion als Kohlenstoffspeicher und Bremser der globalen Erwärmung verlieren. Doch die wechselnden Regierungen Brasiliens – verantwortlich für den größten Teil Amazoniens – beließen es bei Lippenbekenntnissen und ignorierten trotz zweier UN-Umweltkonferenzen in Rio de Janeiro 1992 und 2012 Ökologen und Klimaforscher. Nun scheinen deren schlimmste Befürchtung eingetroffen zu sein.
Raubbau erst seit 50 Jahren
Das Amazonasbecken hat eine Ausdehnung von etwa 7,25 Millionen Quadratkilometern und ist damit mehr als zwanzigmal so groß wie Deutschland. Die ursprüngliche Fläche der sich seit 50 Millionen Jahren entwickelnden Amazonasregenwälder wird auf etwa 5,3 bis über sechs Millionen Quadratkilometer geschätzt. Rund 60 Prozent Amazoniens, 4,2 Millionen Quadratkilometer, liegen in Brasilien.
Entgegen der üblichen Annahme begann die Abholzung Amazoniens nicht mit der europäischen Eroberung Lateinamerikas im 16. Jahrhundert. Die wirtschaftliche Ausbeutung der größten Regenwaldregion der Erde beschränkte sich fast 500 Jahre lang im wesentlichen auf die reichhaltig vorhandenen natürlichen und erneuerbaren Waldressourcen wie Kakao, Kautschuk und Paranüsse, benannt nach dem brasilianischen Bundesstaat Pará.
Die großflächige Waldvernichtung begann erst in den 1970er Jahren mit Straßen wie der legendären Transamazônica und Kolonisierungs- sowie Subventionsprogrammen, die Millionen von Siedlern vor allem aus Südbrasilien und internationale Investoren lockten. Die damalige brasilianische Militärregierung und ihre Wirtschaftsexperten sahen die bis dahin übliche Nutzung der natürlichen Waldprodukte als »rückständig« an. Sie ersetzten eine nachhaltige, die Bevölkerung Amazoniens ernährende und gleichzeitig Devisen einbringende Ökonomie durch rücksichtslosen Kahlschlag, künstliche Rinderweiden und Monokulturen: eine bis heute andauernde Wirtschaftspolitik der Regenwaldvernichtung mit dem südlichen und südöstlichen Amazonasgebiet, dem sogenannten Abholzungsbogen, gebildet von den Bundesstaaten Maranhão, Pará, Mato Grosso, Rondônia und Acre, als erstem Opfer.

Ohne Rücksicht auf indigene Völker und traditionelle Bevölkerungsgruppen hatten sich bis 1982 wenigstens 19 multinationale Konzerne mehr als sieben Millionen Hektar Land für Holzeinschlag, Viehzucht, Landwirtschaft und Bodenspekulation unter den Nagel gerissen, so die Angaben der französischen Forscher Hervé Théry und Jean Eglin in ihrem Bericht »Die Plünderung des Amazonas« (Le Pillage de l’Amazonie). Selbst hochproduktive Paranussbaumgebiete wurden kahlgeschlagen und die seit Jahrhunderten davon nachhaltig lebende Waldbevölkerung in Armut gestürzt bzw. in den Exodus getrieben.
„Die direkten Treiber der Entwaldung in der Region sind überwiegend die großflächige industrielle Landwirtschaft (hauptsächlich Soja) und die extensive Rinderzucht“, resümiert der 2015 vorgelegte Bericht »Deforestation in the Amazon (1970–2013)« des Amazonasnetzwerks für georeferenzierte sozialökologische Information (RAISG). Dabei sei die Abholzung eng mit dem von der Regierung durchgeführten Straßenbau verbunden, erläutert Amazonasforscher Philip M. Fearnside. „Mit Bau und Ausbau von Überlandstraßen und einem Netzwerk von Zubringerstraßen strömen mehr Siedler in das Gebiet und erhöhen dramatisch die Rodungen.“ Gleichzeitig erhöhe die Präsenz von Siedlern im Regenwald den politischen Druck für den Bau von noch mehr und besseren asphaltierten Straßen. Bodenspekulation, Staudämme, industrieller Bergbau sowie Goldgräber und Tropenholzeinschlag sind weitere Faktoren.
Zahlen der 1997 veröffentlichten Studie »Deforestation and Livelihoods in the Brazilian Amazon« der Universität São Paulo zufolge gab es Anfang der siebziger Jahre im gesamten Amazonasgebiet nur 292 Holzfällerbetriebe. Allein im Bundesstaat Pará waren es 1995 bereits mehr als 2.000. Laut Daten des für die satellitengestützte Waldüberwachung zuständigen Weltraumforschungsinstituts INPE wurden von 1978 bis 1988 im Schnitt pro Jahr rund 20.000 Quadratkilometer Regenwald allein im brasilianischen Amazonasgebiet abgeholzt. Die schlimmsten Abholzungsjahre sollten noch Folgen. 1995 verlor Brasilien 29.000 Quadratkilometer, im Jahr 2003 mehr als 25.000 und 2004 fast 28.000 Quadratkilometer Amazonasregenwald.
2013 errechnete INPE die gesamte Abholzung mit 762.979 Quadratkilometern seit 1973. Damit wurden, hieß es im 2017 vorgelegten Bericht »Das zukünftige Klima Amazoniens« des Amazonas- und Klimaforschers Antonio Donato Nobre, während der vergangenen 40 Jahre mehr als 42 Milliarden Bäume vernichtet, fast drei Millionen pro Tag. Umgerechnet auf die Größe eines Fußballfeldes, sind dies 12.635 abgeholzte Fußballfelder pro Tag, 526 Fußballfelder pro Stunde.
2019 warnte Amazonasexpertin Kirsten Thonicke vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK): »Bereits heute sind 20 Prozent der 5,3 Millionen Quadratkilometer Regenwald abgeholzt worden.« Diese Fläche sei größer als die gesamte Europäische Union und habe zu einer Erwärmung von 0,8 bis 0,9 Grad in der Region geführt und die Trockenzeit verlängert. Andere Wissenschaftler gehen von einer etwas geringeren Amzonasvernichtung von 17 Prozent aus.
Doch egal, ob es 17 oder 20 Prozent sind, es ist viel zuviel. Dies gilt vor allem für Pará und Mato Grosso mit einem gesamten Regenwaldverlust von 34,42 Prozent bzw. 32,35 Prozent, so die jüngsten INPE-Zahlen von Mai 2021.
CO2-Nettoemittent
Die Wissenschaft ging bisher davon aus, dass Amazonien trotz Abholzung der vergangenen Jahrzehnte weiterhin das globale Klima ausgleicht und dem Treibhauseffekt entgegenwirkt, indem es der Atmosphäre jährlich Millionen von Tonnen Kohlendioxid (CO2) entzieht und es in Form von Kohlenstoff in seiner wachsenden Pflanzenmasse speichert. Doch seit wenigstens zehn Jahren ist dies offensichtlich nicht mehr der Fall. Im Gegenteil: Brandrodungen und Kahlschläge haben den größten Regenwald in einen CO2-Nettoproduzenten verwandelt. Dies zeigt nun erstmals die im Fachblatt Nature im Juli veröffentlichte Studie »Amazonia as a carbon source linked to deforestation and climate change« eines internationalen Wissenschaftlerteams unter Leitung von Brasiliens Weltraumforschungsinstitut INPE.
Von 2010 bis 2018 haben die Forscher per Kleinflugzeug vierzehntäglich das Amazonasgebiet in vier repräsentativen Regionen vom Nordosten bis zum Südwesten überflogen und die CO2-Konzentrationen in 300 bis 4.400 Metern Höhe über dem Kronendach gemessen. Es folgte eine zwei Jahre dauernde Datenauswertung. »Die erste sehr schlechte Nachricht ist, dass die Brandrodungen etwa dreimal mehr CO2 produzieren, als der Wald absorbiert«, erläutert Luciana Gatti, INPE-Forscherin und Hauptautorin der Studie. »Die zweite schlechte Nachricht ist, dass die CO2-Emissionen in den Regionen, wo die Abholzung 30 Prozent oder mehr beträgt, zehnmal höher ist als in den Gebieten mit einer Entwaldung von weniger als 20 Prozent.«
Konkret gibt das Regenwaldgebiet demzufolge seit 2010 im Schnitt 1,51 Milliarden Tonnen CO2 vor allem durch Brandrodung in die Atmosphäre ab, während es aber nur 450 Millionen Tonnen CO2 aufnimmt und in seiner Biomasse speichert. »Dies ist eine schreckliche Nachricht«, so Luciana Gatti. Denn damit ist Amazonien ein Nettoproduzent von 1,06 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr, was so manche Industrienation in den Schatten stellt. Statt den Klimawandel zu bremsen, heizt die südamerikanische Regenwaldregion die Atmosphäre folglich schon seit Jahren noch viel stärker auf als beispielsweise Deutschland, das seine jährlichen CO2-Emissionen von 1,05 Milliarden Tonnen im Jahr 1990 mühsam auf 644 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr reduzieren konnte.
Hauptverantwortlicher für diese »Klimakatastrophe« ist Brasilien. Der brasilianische Teil Amazoniens gibt mit 870.000 Tonnen jährlich den Großteil der amazonischen Netto-CO2-Emissionen ab. Am schlimmsten sei die Situation in der südöstlichen Amazonasregion, vornehmlich in Pará und Mato Grosso, wo der Wald bereits zu mehr als 30 Prozent vernichtet ist. Die Abholzung hat hier zu einer regionalen Klimaveränderung mit einer längeren, trockeneren und wärmeren Trockenzeit geführt. Die Forscher registrierten in den Monaten August, September und Oktober einen Temperaturanstieg von mehr als zwei Grad bei einem gleichzeitigen Rückgang der Niederschläge um rund 25 Prozent. Dieser Klimastress führe zu einem CO2-produzierenden Teufelskreis, der die Wälder leichter brennen und die Bäume früher absterben lässt.
Aufgrund der Dürre, erläutert Gatti, färbten sich die Blätter der normalerweise immergrünen Regenwaldbäume braun und begännen zu fallen. Die Bäume stoppen die Photosynthese und nehmen kein CO2 mehr auf, atmen aber weiter. Dieser Klimastress führe damit nicht nur zu einer Verringerung der Kohlenstoffspeicherung, sondern im schlimmsten Fall zum Absterben der Bäume, die in der Folge durch den Verrottungsprozess ihrer Biomasse vermehrt CO2 freisetzen.
Gatti: »Was im Süden von Pará und im Norden von Mato Grosso passiert, ist, dass die empfindlichsten Baumarten eingehen und nur die widerstandsfähigsten überleben. Bereits heute sterben im Südosten des Amazonas mehr Bäume ab, als nachwachsen.« Dies bedeute, dass der Wald in dieser Region, selbst wenn er nicht in Brand gesetzt wird, jedes Jahr mehr Kohlenstoff emittiert als aufnimmt. Weniger Bäume führten zu weniger Regen und höheren Temperaturen, was Trockenzeit und Klimastress für den verbleibenden Wald noch erhöhe: Eine sich weiterdrehende Spirale, die große Kreise nach sich ziehen kann.
»Fliegende Flüsse« versiegen
Bereits der Amazonasforscher Alexander von Humboldt hatte im 19. Jahrhundert den Zusammenhang zwischen Regenwald, Luftfeuchtigkeit und Klima erahnt, den schließlich heutige Wissenschaftler bestätigten und genauer beschreiben. Studien zeigen, ein großer Regenwaldbaum kann an einem einzigen Tag mehr als tausend Liter Wasser aus dem Boden pumpen und verdunsten lassen. Diese Evapotranspiration entzieht der Umgebung Energie und kühlt damit das lokale Klima ab, während das verdunstete Wasser in höhere Luftschichten aufsteigt. Berechnet auf ein intaktes Amazonien, geben seine mehr als 400 Milliarden Bäume täglich mehr als zwanzig Milliarden Tonnen Wasser in die Atmosphäre ab und produzieren damit einen atmosphärischen oder »fliegenden« Fluss, der größer ist als der mächtige Amazonasstrom, der täglich »nur« 17 Milliarden Tonnen Wasser in den Atlantik gießt.
Winde tragen diese enormen, Regen produzierenden Wassermengen von Ost nach West nicht nur über das ganze Amazonasbecken, sondern bis in die höchsten Andenregionen, wo sie die Gletscher bilden, deren Schmelzwasser wiederum die Flüsse der pazifischen Andenseite speist. Der »fliegende Amazonasfluss« strömt auch von Nord nach Süd und bringt Regen nach Zentral- und Westbrasilien in die Hochebenen der Cerrado-Savanne und in das Pantanal sowie nach Süd- und Südostbrasilien, nach Bolivien, Paraguay, Uruguay und Argentinien.
Mit jedem weiteren abgeholzten Amazonasbaum droht diesen Regionen ein Wüstenklima. Luciana Gattis Studie legt nahe, dass dieser Teufelskreis bereits im Gange ist. Selbst im noch weitestgehend intakten westlichen Amazonasbecken mit einer Abholzung von geschätzten elf Prozent verzeichnete das Forscherteam abnehmende Niederschläge und steigende Temperaturen, mit ausgelöst durch die Rodungen im Osten. Diese Klimaveränderung sei zwar bisher noch geringer als in den stärker abgeholzten Amazonasteilen, doch auch sie erhöhe Baumsterblichkeit und verringere die Photosynthesekapazität, sprich die Kohlenstoffspeicherung.
Eine 2019 veröffentlichte Studie der University of California nutzte Satellitendaten aus den vorangegangenen 20 Jahren, um die Entwicklung des Feuchtigkeitsgehalts in der Atmosphäre über dem Amazonasregenwald zu bestimmen. Auch sie kam zum Schluss: »In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist die Amazonasatmosphäre immer trockener geworden.« Zusätzlich kommt es vermehrt zu Extremereignissen. Nach der schlimmen Dürre vor allem in Nordamazonien im Jahr 1998 registrierte die Amazonasregion 2005 schon wieder eine extreme Trockenheit, die als »Jahrhundertdürre« bezeichnet wurde. Nur fünf Jahre später kam es zu einer noch größeren Dürre, die von einer erneuten amazonischen Jahrhundertdürre im Jahr 2015 abgelöst wurde, die nun bis in den Südosten Brasiliens reichte. »Brasilien trocknet aus: Die schlimmste Dürre seit Jahrzehnten«, titelte damals die Deutsche Welle.
Auch 2020 erlebte Amazonien eine extreme Trockenheit. »Insbesondere August, September und Oktober scheinen die trockensten seit mehr als 20 Jahren zu sein«, vermeldete das Woodwell-Klimaforschungszentrum. Betroffen war vor allem der südliche Amazonas. 2020 verzeichnete auch das Pantanal einen drastischen Wassermangel und katastrophale Flächenbrände wie nie zuvor. Trockenheit und Waldbrände wüteten ebenso in der Chaco-Waldregion Argentiniens und Paraguays. Ein weiterer Hinweis auf eine sich in Richtung Abgrund drehende Spirale.
Der Fünfjahresrhythmus der Dürren deutet zwar auf einen Einfluss des El-Niño-Effekts hin. Doch ist dieser nicht die alleinige Ursache. INPE-Forscher Antonio Donato Nobre: »Vor der intensiven Abholzung in Amazonien waren die Niederschläge so reichlich, dass oft gesagt wurde, dass es im Amazonasbecken nur zwei Jahreszeiten gebe, eine feuchte und eine noch feuchtere. Heute gibt es eine ausgeprägte Trockenzeit, und die Dauer der Regenzeit nimmt mehr und mehr ab.« Die aufeinanderfolgenden Extremdürren in diesem Jahrhundert ließen bereits 2018 den NASA-Forscher Sassan Saatchi an dem bis dahin gültigen »Forschungsparadigma, dass der Amazonas, unabhängig davon, wieviel Kohlendioxid wir (die Industriestaaten) emittieren, einen Großteil davon absorbiert«, zweifeln. Saatchi: Amazonien sei so anfällig für die Erwärmung und wiederkehrende Dürreereignisse geworden, dass es je nach Schweregrad und Ausmaß der Dürre von einer Kohlenstoffsenke zu einer Kohlenstoff- bzw. CO2-Quelle werden könne.
Die gleichfalls im Juli 2021 veröffentlichte Forschungsarbeit »Tracking the impacts of El Niño drought and fire in human-modified Amazonian forests« bestätigte Saatchis Befürchtung. Das Forscherteam aus Brasilien, Großbritannien und Schweden untersuchte die Folgen der Amazonasdürre von 2015, die etwa 447 Millionen größere und 2,5 Milliarden kleinere Bäume in der betroffenen Region des unteren Tapajós’ absterben ließ. Als Folge von Dürre und dadurch unterstützten Waldbränden, so die Forscher, habe die Region zumindest über einen Zeitraum von drei Jahren mehr Kohlenstoff freigesetzt als Industrieländer wie Großbritannien. Dabei konnte das Pflanzenwachstum in den drei Jahren nach der Dürre nur rund ein Drittel der Emissionen absorbieren.
Für Forscherin Gatti steht zweifelsfrei fest: Der Amazonas ist heute eine Kohlenstoffquelle. Eine wissenschaftliche Erkenntnis, die die Welt eigentlich mehr interessieren und aufrütteln sollte als der klimaschädliche, elfminütige Flug ins All eines rücksichtslosen Unternehmers namens Jeffrey Preston Bezos, der seine 1994 gegründete, globale Warenströme produzierende Internethandelsfirma nach dem wasserreichsten Fluss der Erde taufte: Amazon oder auf deutsch Amazonas.
In ihrem Artikel über Gattis Forschungsergebnisse formulierte es die auf Klimathemen spezialisierte Journalistin Ciara Nugent vom Time Magazine so: »Es ist eine hohe Messlatte, aber dies ist eine der deprimierendsten Tatsachen, von denen ich als Klimajournalist je gelesen habe: Der Amazonasregenwald – eine Region, die als ›die Lunge der Welt‹ bekannt ist – emittiert jetzt mehr Kohlenstoff, als er absorbiert.«
Krieg gegen die Unwissenheit
Doch noch ist nicht alles verloren. Laut Luciana Gatti könne der Prozess noch umgekehrt werden. Gatti schlägt ein Moratorium für Abholzung und Brandrodungen für mindestens fünf Jahre im gesamten Amazonasgebiet vor, insbesondere in der Südostregion, die zusätzlich zu einem sofortigen Abholzungsstopp wiederaufgeforstet werden müsste. »Bei einem solchen Szenario glaube ich an eine Umkehrmöglichkeit«, sagt die Forscherin.
Doch die Signale der Regierung Jair Bolsonaro verheißen genau das Gegenteil. Weder ein Abholzungsstopp noch ein Ende der Waldbrände ist in Sicht. Vergangenen Juni wüteten 2.308 Brandherde im brasilianischen Amazonasregenwald sowie 4.181 im Cerrado. Allein im Sojastaat Mato Grosso zählten die Satelliten 2.185 Feuer. Diese Rekordzahlen für einen Juni sprechen nicht für eine Wende, sondern für ein Voranschreiten der Abholzung – bis der letzte Baum gefällt oder abgefackelt ist.
Für Antonio Donato Nobre, der seit mehr als 30 Jahren in und über Amazonien forscht und die ökologischen Folgen wie kaum ein anderer Wissenschaftler kennt, sei schon in den 1990er Jahren eine Null-Abholzungs-Politik in Brasilien eine dringende Notwendigkeit gewesen. Obwohl heute ein Ende der Abholzung obligatorisch, unvermeidlich und längst überfällig sei, werde es nicht ausreichen, die bedrohlichen Klimatrends umzukehren, warnte Nobre 2017. »Wir müssen soweit wie möglich alles wiederherstellen, was verändert und zerstört wurde. Wiederaufforstung in solchem Umfang setzt die Umkehr der Landnutzung in weiten, zur Zeit besetzten Gebieten voraus.« Angesichts des aktuellen Szenarios sei dies aber sehr unwahrscheinlich.
»Allerdings war und ist nur ein kleiner Teil der Gesellschaft direkt an der Zerstörung der Wälder beteiligt«, so der Amazonasforscher. Es sei eine Minderheit, die Brasilien und Lateinamerika in Richtung des Klimaabgrunds treibe. Um dagegenzuhalten, brauche es als ersten Schritt eine einem Kriegseinsatz gleichende Kampagne, einen »Krieg« gegen die Unwissenheit. »Eine bisher beispiellose Anstrengung, um die Gesellschaft aufzuklären. Und die vor allem auf diejenigen zielt, die sich noch immer an den Irrglauben klammern, dass die Zerstörung der Wälder harmlos sei.«
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Die Erstveröffentlichung erfolgte in „junge Welt“ vom 04.08.21
Hier noch eine neue NASA-Studie: NASA Study Finds Tropical Forests‘ Ability to Absorb Carbon Dioxide Is Waning