Muss Klimaprotest radikaler werden?

Muss Klimaprotest radikaler werden?
Protest der "Letzten Generation" Foto: Stefan Müller/Wikimedia Commons 2.0

Muss Klimaprotest radikaler werden?

enorm-magazin.de: Der Protest der Klimainitiative Letzte Generation wurde in letzter Zeit kontrovers diskutiert. Wie radikal darf Klimaprotest im Angesicht einer Vielzahl ökologischer Krisen sein? Was macht Klimaprotest überhaupt radikal? Und welche Folgen kann das für Protestthemen, Gesellschaft und Demokratie haben? Darüber diskutieren Lilly Schubert, Mitgründerin der Klimainitiative Letzte Generation in Leipzig und Sophia Hunger, Protestforscherin am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).

Frau Schubert, Fridays for Future ist Ende September mit Zehntausenden Menschen für den Klimaschutz auf die Straße gegangen. Die Letzte Generation setzt auf radikalere Schritte beim Klimaprotest, Straßenblockaden etwa. Warum?

Lilly Schubert: Weil wir ganz kurz vor dem Punkt stehen, an dem wir nicht mehr zurückkommen: Entweder wir sagen, okay, jetzt ist das Gletschereis fast weg, der Permafrost taut, die 1,5 Grad auf der Erde reißen wir sowieso – was soll’s. Oder wir ziehen alle Register, um die Katastrophe zu verhindern. Wir steuern auf drei, vier Grad Erderhitzung zu. Das heißt, über den Landmassen wird es zum Teil um fünf bis sechs Grad heißer, um den Äquator herum ist unser Planet dann voraussichtlich unbewohnbar. Da halte ich zivilen Ungehorsam für das mildeste Mittel überhaupt.

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Konkret heißt das: Sie setzen sich zum Beispiel auf zentrale Verkehrsadern in Großstädten und kleben sich fest …

Schubert: … um den Alltag so massiv zu stören, dass niemand unseren Klimaprotest ignorieren kann. Aus meiner Sicht ist das die einzige Möglichkeit, um genug Druck zu erzeugen, damit unsere Regierung die drei, vier Jahre, die uns bleiben, endlich nutzt, um das Kippen der Klimasysteme zu verhindern.

Frau Hunger, ist das wissenschaftlich gesehen radikal?

Sophia Hunger: In der Protestforschung unterscheiden wir zwischen wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Bewertung. Die Gesellschaft kann einen Protest als radikal bewerten – weil sie sich etwa massiv gestört fühlt –, der aus wissenschaftlicher Sicht keineswegs radikal ist. Für uns fängt radikal da an, wo sich ein Protest nicht an die gesellschaftlichen Regeln hält, also wenn eine Demonstration beispielsweise nicht angemeldet ist. Wir sprechen allerdings eher von konfrontativ illegalen als von radikalen Protestformen.

Radikal definiert sich also vor allem über die Protestform?

Hunger: Auch die Inhalte zählen natürlich. Wenn Menschen friedlich für das Verbot von Abtreibung nach einer Vergewaltigung demonstrieren, ist das durchaus ein radikaler Protest, weil sich diese Forderung weit vom gesellschaftlichen Konsens entfernt. Die Protestform selbst allerdings ist alles andere als radikal. Generell unterscheiden wir in der Wissenschaft zwischen Protestformen mit unterschiedlichen Eskalationsstufen. Die Petition ist die handzahmste, gefolgt von Demonstrationen, legalen Sitins vor Einrichtungen, illegalen Blockaden, schließlich Gewaltförmiges wie Sachbeschädigung, Sabotage oder im Extremfall Gewalt gegen Personen. Was davon in einer Gesellschaft als legitim gilt, hängt von ihren Werten, ihren Kommunikationsformen und vom zeithistorischen Kontext ab.

Schubert: Für mich ist die Suffragettenbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts ein super Beispiel. Erst haben diese Frauen mit Petitionen für rechtliche Gleichstellung gekämpft, dann mit Politiker:innen Gespräche geführt, später begannen sie in der Öffentlichkeit zu rauchen – damals eine ungeheure Grenzüberschreitung. Da alles nichts brachte, zogen sie schließlich in Gruppen von 100, 150 Frauen durch die Straßen und schlugen Fenster ein. Wenn das die Klimabewegung tun würde, wäre das ein totaler Tabubruch. In der Bewertung der Suffragettenbewegung dagegen steht heute außer Frage, dass die Protestform völlig berechtigt war im Kampf für das Frauenwahlrecht.

Hunger: Aber das ist eine Legitimierung in der Rückschau. Wäre die Frauenbewegung nicht erfolgreich gewesen, würde man heute ganz anders darüber sprechen.

Sollte die Klimabewegung sich dennoch ein Beispiel an ihr nehmen und radikaler in ihrem Klimaprotest werden, um etwas zu bewirken? Der CO2-Verbrauch weltweit steigt weiter, statt zu sinken.

Hunger: Nein, das kann man so einfach nicht sagen. Was ein Protest erreicht oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. In der Protestforschung unterscheiden wir zwischen positiven und negativen „Radical Flank Effects“. Positiv bedeutet: Die radikale Flanke mag abschrecken, erzeugt aber Druck und nutzt so dem moderaten Teil der Bewegung. Die Gesellschaft ist schneller bereit, die Moderaten als legitim anzuerkennen. Sie sind das kleinere Übel. Die Existenz radikaler Kräfte kann auch einen Diskurs komplett verschieben.

Wenn eine Gruppe etwa Autos sofort abschaffen will …

Hunger: … finden jene leichter Gehör, die sie erst ab 2035 in den Innenstädten verbieten möchten. Zugeständnisse werden wahrscheinlicher, Moderate bekommen eher Zugang zu Institutionen oder finden Gehör in Talkshows. Wenn die radikalen und moderaten Teile einer Bewegung gut kooperieren und sich über Lösungskonzepte abstimmen, lässt sich die Arbeitsteilung auch strategisch nutzen – die Konfrontativen machen Druck und holen die Verantwortlichen an den Verhandlungstisch, wo die Moderaten warten… weiterlesen

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