Plurinationalität – keine leere Worthülse, sondern ein Rechtskonzept
Plurinationalität – keine leere Worthülse, sondern ein Rechtskonzept
poonal, Nachrichtenpool Lateinamerika
Mit 154 weiteren Abgeordneten arbeitet Mapuche-Vertreterin Natividad Llanquileo an der Ausarbeitung der neuen Verfassung in Chile. Die Anwältin für politische Gefangene aus dem Volk der Mapuche hält einen der 17 für indigene Vertreter*innen reservierten Sitze. Wir sprachen mit ihr über die Forderungen, Erwartungen und Vorschläge der indigenen Völker an die verfassungsgebende Versammlung und die Situation der Mapuche-Gefangenen. Das Interview wurde einen Tag vor der Amtseinführung der neuen Regierung geführt. Llanquileo hatte zu dem Zeitpunkt schon eine Plenarsitzung des Verfassungskonvents, bei der das Recht auf Land und natürliche Ressourcen Thema war, sowie eine anschließende Versammlung der Mapuche im Garten des alten Kolonialhauses, in dem der Verfassungskonvent tagt, hinter sich.
Welche Erwartungen hat das Volk der Mapuche an die verfassungsgebende Versammlung?
Es gab schon viele Gespräche mit dem Parlament, runde Tische, Dialoge, und immer wieder hat der Staat uns belogen. Gleichzeitig sind wir nun aber in der Lage, an der Umgestaltung der Verfassung mitzuwirken, die während der Diktatur von einer kleinen Gruppe der politischen Elite gemacht wurde, und darin sehen wir als Indigene und als Chilen*innen eine reelle Chance, auf unsere rechtliche und politische Situation Einfluss zu nehmen, auch wenn das Misstrauen dem chilenischen Staat gegenüber etwas ist, das immer mitläuft. Wir sind hier, um diese Chance zu nutzen; anderen ist vor allem daran gelegen, das wiederzugewinnen, wofür Chile einst stand. Dieses Land ist wunderschön und aus vielerlei Gründen liebenswert. Aber es ist unheimlich wichtig, dass die sozialen Rechte und die Rechte der Natur in dieser neuen Verfassung verankert werden. Chile muss eine neue Beziehung zur Natur aufbauen, den Extraktivismus in seine Schranken weisen. Die Dürreperioden, die wir heute erleben, komplexe Situationen wie Umweltverschmutzung und Wassermangel sind Folgen der Megaprojekte und des Extraktivismus, deshalb ist es wichtig, hier einzugreifen. Auch unsere konkrete Situation spielt hier mit rein und eben auch die Frage, wie wir als indigene Völker überleben können. Für uns ist es ein zentrales Anliegen, die künftigen Generationen mitzudenken.
Was bedeutet für Sie der Begriff der Selbstbestimmung?
Naja, wir haben klargemacht, dass uns dieses Recht zusteht. Wir haben immer wieder deutlich gesagt, dass wir hier nicht bei null ansetzen, sondern uns auf internationale vom chilenischen Staat unterzeichnete Menschenrechtsverträge und –instrumente beziehen, die uns als indigene Völker unterstützen und unser Recht auf Selbstbestimmung, auf Autonomie, auf unsere Territorien ausweisen. Territoriale Autonomie bedeutet im Klartext Recht auf eigene Territorien, und das war heute Gegenstand der Abstimmung. Wir werden dieses Recht auch weiterhin verteidigen, denn ohne eigenes Territorium ist es schwierig, das Recht auf Selbstbestimmung in die Tat umzusetzen.
Und was war heute los?
Bei der heutigen Abstimmung haben wir schlecht abgeschnitten. Unsere Eingabe geht nun zurück an den Grundrechtsausschuss. Der muss innerhalb von zwei Wochen einen neuen Vorschlag vorlegen, natürlich in Absprache mit den verschiedenen Initiativen, die am Konvent teilnehmen. Das war leider ein bisschen kompliziert. Mit unserem Anspruch, ein wirklich gutes Ergebnis auszuarbeiten, liegen wir nicht besonders gut in der Zeit, das betrifft auch die Debatte um unsere Territorien. Trotzdem läuft die Diskussion, denn schließlich geht es dabei um eine unserer Hauptforderungen, wenn nicht sogar die wichtigste Forderung des Mapuche-Volks. Alle weiteren Debatten um Gerechtigkeit im weitesten Sinne sind mit diesem Punkt verknüpft, auch das Problem der politischen Gefangenen hängt damit zusammen. Um das neue Chile aufbauen zu können, nach dem wir uns sehnen, das Land, in dem Gerechtigkeit und Wahrheit herrschen, brauchen wir die Garantie, dass so etwas nie mehr passiert. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass sich die gewaltsame Besetzung und Militarisierung unseres Territoriums nicht wiederholt.
Wie lautet Ihre Forderung?
In den Mainstream-Medien wird immer wieder behauptet, dass wir Indigene die gesamte Macht übernehmen wollen. Das ist natürlich Quatsch. Auch Chilen*innen leben hier unter prekären Bedingungen, und wir wissen, was das heißt. Uns geht es darum, gegen den Großgrundbesitz vorzugehen. Es kann nicht sein, dass eine einzige Person 4.000, 5.000, 6.000 Hektar besitzt, oder dass Bergbauunternehmen Tausende und Abertausende von Hektar für sich beanspruchen, während die Gemeinden im wahrsten Sinne des Wortes in die Enge getrieben werden.
Ich war in diesen Tagen in der Nähe von Curanilahue….
Die Gemeinde Curanilahue ist sehr stark von der Eukalyptus- und Kiefer-Monokultur geprägt. Selbst in den Hinterhöfen der Bewohner*innen stehen Kiefern und Eukalyptusbäume. Durch die Macht einiger Forstunternehmen lebt die Bevölkerung völlig verarmt und in prekären Verhältnissen. Es sind nur einige wenige Familien; sie haben komplett das Sagen, und sie zahlen auch nicht einmal Steuern. So absurd ist unser heutiges Wirtschaftssystem. Eine strukturelle Veränderung in diesem essentiellen Bestandteil unseres Staates wäre unbedingt vonnöten.
Wie wird der Pluralismus rechtlich umgesetzt?
Rechtspluralismus war ein Thema, das wir mit den verschiedenen Verbänden diskutiert haben. Ich bin Mitglied einer der Kommissionen für Justizsysteme, und wir mussten mit jeder einzelnen Person sprechen, um zu erklären, was das bedeutet. Rechtspluralismus hatte anfangs einen miserablen Ruf, kaum jemand wusste, was damit eigentlich gemeint ist. Bis heute zeichnen die Medien ein sehr negatives Bild von Rechtspluralismus und Volksabstimmung, das fördert natürlich die allgemeine Ablehnung, dennoch werden wir ihn in die neuen Justizsysteme integrieren, denn: Rechtspluralismus, in Koordination mit dem nationalen Justizsystem, ist ein Teil der Selbstbestimmung der indigenen Völker. Mit Koordination meine ich Zusammenarbeit und nicht Unterordnung; auch hier geht es darum, unsere Benachteiligung abzubauen, und das ist in dem Verfassungsentwurf bereits enthalten.
Was ist hinsichtlich der interkulturellen Erziehung geplant?
Die Grundrechtskommission wird in den nächsten Tagen weitere Berichte über die sozialen Rechte vorlegen, auch unsere Vorschläge zur interkulturellen Erziehung werden darin enthalten sein. Im Moment gibt es zur interkulturellen Bildung nur ein Dekret, und das bedeutet quasi: nichts, weil es von jedem x-beliebigen neugewählten Präsidenten einfach wieder abgeschafft werden kann, wenn er das will. Das Recht auf Bildung muss unbedingt eins sein: verbindlich. Über den plurinationalen Staat wurde schon viel gesprochen. Der Begriff war auf einmal richtig populär. Alle sagten: „Wir wollen einen plurinationalen Staat, wir wollen die indigenen Völker“ und so weiter. Ich denke, wir haben da von so einer Art Folklore-Pluspunkt profitiert. Wir haben dann angefangen, unsere Themen auf den Tisch zu packen, was in der Regel immer zu Konflikten führt, und klargemacht, dass das Konzept der Plurinationalität mit Inhalt gefüllt werden muss, dass es keine leere Worthülse bleiben darf, sondern sich in konkreten Rechten ausdrücken muss. Dabei geht es z.B. um das Recht der indigenen Völker auf eigene Gerichtsbarkeiten, eigene Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, die erhalten bleiben müssen. Wenn dies von einem plurinationalen Staat nicht geleistet werden kann, ist das Konzept wertlos. Gleiche Bildung, gleich für alle, ist ein Problem. Weil nämlich Gleichheit ein Problem ist. Denn einerseits wird nicht allen Menschen ein einheitlicher Zugang zu Bildung derselben Qualität angeboten, das ist natürlich kritikwürdig, andererseits muss man aber aufpassen, dass die Forderung nach einheitlicher Bildung nicht die Vielfalt unserer Völker ignoriert. Unter diesem Gesichtspunkt ist es gerade nicht wünschenswert, nur eine Art von Bildung zu haben. Ich denke jedoch, dass dieser Punkt weniger problematisch ist, weil er ja heute bereits konkret umgesetzt wird, wenn auch nicht mit der verfassungsrechtlichen Anerkennung. Es gibt ja bereits Erfahrungen damit, und anders, als viele annehmen, hat das nicht zu einer Spaltung des Landes geführt. Nichts in der Richtung ist passiert, im Gegenteil hat sich daraus eher eine Bereicherung ergeben, und das wird auch in Zukunft so sein.
Wie sieht es mit der Situation im Wallmapu aus? Welche Erwartungen haben Sie an die neue Regierung?
Wie es im Wallmapu weitergeht, hängt sehr stark von den politischen Entscheidungen der Regierung ab. Es geht ja nicht um Dinge, die nun ganz neu von den Mapuche-Zusammenhängen eingebracht wurden, sondern um die Hauptforderungen der indigenen Völker, die seit langem erhoben werden: die Rückgabe von Territorien und die Freilassung der politischen Gefangenen. Der verfassungsgebende Prozess muss auf diese Forderungen reagieren. Wenn nun die Gelegenheit verpasst wird, diesen Konflikt institutionell anzugehen, wozu der Staat sogar verpflichtet ist, wird sich das Problem sicher nicht auflösen. Chile hat die Konvention 169, die Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker, vor über zehn Jahren ratifiziert, das rechtliche Instrument existiert also schon. Somit hängt alles davon ab, welche politischen Entscheidungen die Regierung trifft. Und eine Regierung wie diese muss in der Lage sein, diese Entscheidungen zu treffen. Wenn es ihr ernst ist mit der Anerkennung der indigenen Völker und insbesondere des Volks der Mapuche, und sie wirklich auf eine Lösung hinarbeitet, dann wird sie dieses Problem auch lösen. Es liegt einzig in der Hand der Regierung, man bräuchte nicht einmal eine neue Verfassung, der politische Wille würde schon reichen. Und was wir von der Regierung erwarten, ist, dass sie nun die richtigen Entscheidungen trifft.
Wie viele Mapuche sitzen derzeit als politische Gefangene im Knast? Was erwarten Sie diesbezüglich von der Regierung?
Ungefähr fünfzig… Aufgrund der zunehmenden Kriminalisierung sind die Zahlen in den letzten Jahren gestiegen. Das liegt nicht zuletzt auch an der Rechtspraxis. Immer mehr Menschen landen in Untersuchungshaft, und in jedem dieser Fälle liegt ein Strafantrag der Staatsanwaltschaft vor. Den könnte die Regierung auch einfach zurückziehen, das würde die rechtliche Situation der betroffenen Personen signifikant verändern. Die Haftanträge würden neu geprüft, dadurch kämen viele Leute erstmal wieder frei. Und in den Fällen, wo die Leute ihre Strafe bereits absitzen, müsste eigentlich die Konvention 169 greifen. Die sieht die Suche nach alternativen Maßnahmen für verurteilte Indigene vor. Die Regierung müsste Alternativen zum Freiheitsentzug suchen. Das ist eine Verpflichtung des Staates, zu gucken, was es noch für Möglichkeiten gibt, außer Menschen einzusperren. Die Regierung wird durch das Justizministerium tätig: Ihr untersteht die Gendarmería, die für die Strafvollstreckung zuständig ist. Indigene Menschen haben eine enge Beziehung zur Natur. Das Mindeste wäre die Verlegung der Gefangenen in Studien- und Arbeitszentren, wo sie in der Landwirtschaft und im Handwerk arbeiten und lernen könnten, mehr Freiräume hätten und weniger isoliert wären. Und das solange, bis eine grundlegende Reform beschlossen ist. Ich denke, Amnestie ist in manchen Fällen etwas komplizierter, aber Begnadigungen sind machbar. Bloß, dass die Regierungen ihre Politik immer an den Wünschen der Wirtschaftselite ausgerichtet haben, und hier liegt nämlich auch unser eigentliches Problem.
Hoffen Sie auf die Aufhebung des Ausnahmezustands im Wallmapu?
Es wäre natürlich gut, wenn die Gebiete entmilitarisiert würden, aber die Polizeipräsenz bliebe dann trotzdem die gleiche. Schon bevor der Ausnahmezustand verhängt wurde, gab es im Wallmapu eine enorme Polizeidichte. Und die wird so lange weiter bestehen, bis eine politische Lösung des Problems gefunden wird, und die lautet nun mal: Rückgabe unserer Gebiete, und zwar so schnell wie möglich. Die Belange der indigenen Bevölkerung müssen für die neue Regierung oberste Priorität haben.
Übersetzung: Lui Lüdicke
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