Wahlkampf mit dem Sturmgewehr

Wahlkampf mit dem Sturmgewehr
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Wahlkampf mit dem Sturmgewehr

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

Nur wenige Tage vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Brasilien hat Rio de Janeiros Gouverneur Cláudio Castro für ein weiteres Massaker in einer Favela gesorgt. Castro ist berüchtigt für sein brutales Vorgehen in den Armenvierteln der Stadt. Und wie für den rechten Staatschef Jair Bolsonaro, seinen Verbündeten und Parteifreund vom Partido Liberal, geht es für ihn am Sonntag um die Verlängerung seines Mandats.

Gegen vier Uhr morgens weckten am Montag heftige Schusswechsel die Bewohner von Maré im Norden von Rio de Janeiro. Maré umfasst 16 Favelas mit rund 140.000 Einwohnern und mehr als 30 Schulen. Statt sich auf den Weg zur Arbeit zu machen, mussten die Menschen aus Angst vor Querschlägern in ihren Wohnungen Deckung suchen. Die Zivil- und Landespolizei war mit gepanzerten Fahrzeugen in den Favelakomplex eingedrungen, um Drogenbanden zu bekämpfen. Dabei erschossen die Einsatzkräfte sieben Menschen, nahmen 26 »Verdächtige« fest. Sie beschlagnahmten mehr als eine Tonne Marihuana, 50 Marihuanapflanzen, sieben Gewehre, acht Pistolen sowie 20 gestohlene Autos und Motorräder, so das offizielle Resümee nach der Polizeioperation mit 180 Mann. Dabei waren auch Hubschrauber eingesetzt worden.

Noch am selben Tag rechtfertigte Gouverneur Castro das Massaker: »Wieder einmal hat die Polizei ihre Arbeit gemacht«, sagte er gegenüber den Medien während einer Wahlveranstaltung. »Heute gab es eine große Zahl von Gefangenen. Das zeigt, dass die von uns verfolgte Politik niemals dazu gedacht war, jemanden zu töten. Wir haben heute eine große Zahl von Gefangenen gemacht, um diese Menschen aus der Gesellschaft zu entfernen.« Kritiker des rechten Gouverneurs werfen ihm allerdings vor, Wahlkampf mit Waffen zu betreiben. Ein Teil der Bevölkerung Rios, insbesondere die Evangelikalen, befürworten harte Maßnahmen gegen Kriminelle und Drogenbanden.

Unter der Führung von Castro sind von Polizisten angerichtete Massaker in der Millionenmetropole am Zuckerhut zur Routine geworden. Erst am 21. Juli kamen bei einem Einsatz gegen Drogenbanden im Komplex Alemão 16 Favelabewohner und ein Polizist ums Leben. Im Mai starben in der Vila Cruzeiro im Complexo da Penha 25 Menschen. Fast genau ein Jahr zuvor, im Mai 2021, wurden bei einer von Castro abgesegneten Invasion in der Favela Jacarezinho 27 Favelabewohner und ein Polizist erschossen. Es war der bisher opferreichste Polizeieinsatz in der Geschichte Rio de Janeiros.

Daten des Instituts Fogo Cruzado zufolge gab es zwischen Mai 2021 und Mai 2022 unter Castro 39 von der Polizei angerichtete Massaker mit 181 Todesfällen. Als Massaker gelten alle Aktionen mit mindestens drei Todesopfern. Mit den jüngsten Einsätzen in Maré und Alemão hat sich die Zahl auf 41 mit mehr als 200 Toten erhöht. Insgesamt töteten Rios Einsatzkräfte allein im vergangenen Jahr 1.356 Menschen. Laut offiziellen Angaben habe es sich in der Regel um Kriminelle oder Verdächtige gehandelt.

Das wird auch für den Einsatz in Maré so behauptet. Alle sieben getötete Personen hätten von Schusswaffen gebraucht gemacht und seien in Gegenwehr von den Beamten in Uniform erschossen worden, so die polizeiliche Stellungnahme. Doch zumindest in einem Fall scheint dies nicht zu stimmen: Der 53jährige Verkaufsstandbesitzer und frühere Feuerwehrmann José Henrique da Silva habe, wie seine Familie gegenüber lokalen Medien erklärte, nichts mit Kriminellen zu tun gehabt. Er sei auf dem Weg zu seinem Stand gewesen, als er von Polizeikugeln getroffen wurde und an Ort und Stelle verstarb.

Auch andere Bewohner Marés klagten: Während des Einsatzes sei es zu polizeilichen Übergriffen und Misshandlungen gekommen. Das Internetportal A Voz das Comunidades (Stimme der Favelas) veröffentlichte dazu das Video einer Betroffenen. Polizisten seien in ihre Wohnung eingedrungen und hätten sie komplett verwüstet.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Die Erstveröffentlichung erfolgte in „junge Welt“ vom 29.09.21


Norbert Suchanek ist Umwelt- und Wissenschaftsjournalist. Er wurde 1963 in Würzburg geboren. Zu Beginn seiner Karriere, in den 1980er und 1990er Jahren recherchierte er vor allem in Konfliktregionen wie Nordirland und Palästina. Später verlagerte er seinen Fokus auf Brasilien. Seit 2006 arbeitet er als freier Korrespondent in Rio de Janeiro. 2010 rief er zusammen mit Márcia das Internationale Uranium Film Festival ins Leben. Damals war der Atomunfall von Tschernobyl fast vergessen. Und die brasilianische Regierung hat mit dem Bau des dritten Atomkraftwerks und eines Atom-U-Bootes in Rio de Janeiro begonnen. 

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