Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess
HAmbacher Fest 1832 Foto: Wikimedia CC

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Prozess

In unserer Gesellschaft scheint mir derzeit die Ansicht vorzuherrschen, unsere Rechte als Bürger, Arbeitnehmer, Rentner oder Wähler seien zwischen 1850 und 1950 erkämpft worden, und nun sei all dies endgültig geklärt. Vor einhundertfünfzig Jahren waren Arbeitnehmer in einem Industriebetrieb eine neue Erfindung. Sie mussten sich erst ihre Arbeitsschutzgesetze, Sozialversicherung, Rente usw. erkämpfen, denn der zuvor rechtsfreie Raum war von den Firmenbesit­zern nach deren Bedürfnissen gestaltet worden. Heute gilt für Umweltschutz, Gentechnik und Internet dasselbe wie für die Arbeitnehmerrechte ab 1850: Diese noch weitgehend rechtsfreien Räume müssen im Interesse der Menschen gestaltet werden. Seitens der Unternehmen ist eine solche Neugestaltung kaum zu erwarten, denn sie würden damit gegen ihre eigenen Gewinninteressen handeln. Hier ist der Bürger gefragt, denn auch der Staat wird nichts ohne Rückhalt aus der Wählerschaft unternehmen.

Ebenso bleibt eine Demokratie nur bestehen, wenn das Volk ausreichend und regelmäßig dafür eintritt. Fordern wir nicht die Erfül­lung unseres Willens ein, so fühlen sich Politiker auch nicht zum Handeln veranlasst. Erkennbar wird dies an den vielen Fällen, in denen Entscheidungen verschleppt oder nicht im Sinne der Mehrheit getroffen werden, obwohl der Volkswille bekannt ist. Erstaunlich schnell dagegen reagieren Politikerinnen und Politiker, wenn Bürger ihren Unmut in einer Online-Petition äußern oder gar auf die Straße gehen. Beispielhaft dafür ist der Aus­stieg aus der Atomenergie, der durch den Unfall in Fukushima und den daraus resultierenden öffentlichen Druck möglich wur­de.

Probleme der heutigen Demokratie

Der aus früheren Zeiten stammende Zentralismus wird der heutigen Lebenswirklichkeit nicht mehr gerecht, weil die Komplexität unseres Denkens, unserer Technologie, Wirtschaft und Gesell­schaft beständig zunimmt. Chefentscheidungen sind nicht zur Lösung vielschichtiger Probleme geeignet. Heutige Methoden müssen alle Seiten einbeziehen. Auch entwickeln wir von Generation zu Generation mehr Eigenverantwortung und wollen diese in Form von Mitbestimmung wahrnehmen.

Durch die vierjährigen Legislaturperioden geschieht die Umsetzung des Volkswillens immer noch sehr indirekt. In einer unmittelbareren Demo­kratie wäre die Regierung enger an den Willen der Wähler gebunden. Damit hätte sie jedoch wenig Planungssicherheit in Bezug auf langfristig angelegte Pro­jekte. Die Länge der Wahlperi­ode ist also eine Kompromisslösung.

Manche Politiker deuten das als Freibrief, um vier Jahre lang Pause vom Wählerwillen zu machen. Die Tatsache, dass selbst eklatante Verfehlungen wenig Widerspruch in der Bevölkerung auslösen, kann bei ihnen unwillkürlich den Eindruck erzeugen, sie machten alles richtig. Demokratie ist kein Zustand, der einfach so existiert, sondern etwas, um das wir alle uns kümmern müssen wie um einen Garten: „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.“

Daraus resultiert unsere Pflicht, uns Gehör zu verschaffen. Die Revolutionen im neunzehnten Jahr­hundert zeigten, dass der Mensch in der Lage ist, seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, Moral und Art des Zusammenlebens gegen eine Obrigkeit durchzusetzen. Machtlos sind wir nur als Einzelne. Gemeinsam haben wir den Hebel in der Hand.

Wollen wir verhindern, dass sich die Entwicklung der letzten siebzig Jahre fortsetzt und uns ganz langsam, aber unauf­haltsam die Macht entgleitet, so werden wir uns öfter mit den uns umgeben­den Verhältnissen beschäfti­gen und mehr Mitbestimmungsrechte einfordern müssen.

Volksentscheide

Auch in einer repräsentativen Demokra­tie mit Fünf-Prozent-Hürde ist es möglich, dem Volk mittels Volksentscheiden, Petitionen und Volksbegehren mehr Mitspracherechte bei Entscheidungen zu geben. Entsprechende Initiativen haben sich in den letzten Jahren vor allem in der Folge der Finanzkrise gebildet. In gesetzlich anerkannten und selbstorganisierten Petitionen wurden europaweit und weltweit bis zu mehrere Millionen Stim­men gesammelt und an die zuständigen Volksvertreter über­mittelt. Eine solche direkte Meinungsäuße­rung der Bürger kann Politikern den Rücken stärken und Richtungswechsel er­möglichen, die sie als Einzelne oder mit ihrer Partei nicht hätten durchsetzen kön­nen.

Eine Räterepublik?

Nach siebzig Jahren, in denen uns Politiker aller Lager immer wieder durch Nichtein­haltung ihrer Wahl­versprechen enttäuschten und nur sehr wenigen zu trauen war, wählen wir immer noch dieselbe Art von Menschen in demselben System und hoffen darauf, dass es beim nächsten Mal besser werden möge.

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Wie soll sich zwischen Politikern und Wäh­lern ein Vertrauensverhältnis ein­stellen, wenn sie in der Regel keinen persönli­chen Kontakt zueinander haben? Wir kennen die Menschen, die wir wählen sollen, nur aus den Medien. Jeder Politiker ist daher in einem gewissen Rahmen frei darin, den Wähler zu belügen, um seine Ziele zu erreichen. Auch hier ist es der Wettbewerb, der ihn nötigt, mit seinen Verspre­chen möglichst nahe an die Grenze der zumutbaren Übertreibung vorzudringen.

Persönliche Bekanntschaft würde gegenseitiges Vertrauen zwischen Politikern und Wählern schaffen. Ein Räteverfahren könnte dies bewirken. Wenn jeder Wähler seinen politischen Vertreter persön­lich kennt, kann er ihn auch in moralischer Hinsicht einschätzen. Würden jeweils einhundert Menschen einen Rat wählen und diese Räte wiederum einen von einhundert aus ihrer Mitte auf die nächs­te Ebene heben, so benötigten wir lediglich drei Ebenen. Das sind weniger als in manch einem mittelständischen Unter­nehmen.

Wenn jeder Rat für seine Ideen einsteht oder diese von seinen einhundert Wählern mit auf den Weg bekommt und nicht einer Partei angehört, deren Fraktionsdisziplin er verpflichtet ist, so trägt dies der zunehmenden Individualität der Bevölkerung Rechnung. Damit steht dem erhöhten Aufwand ein besseres Ergebnis gegenüber, denn die Entscheidungen enthalten mehr von der Weisheit der Vielen und bilden den Wähler­willen genauer ab.

Das Fernziel: Freiheit und Anarchie

Warum glauben wir eigentlich, dass sich eine Hochkultur durch bedeutende Schöp­fungen, monumentale Bauwerke und einen großen Herr­schaftsbereich auszeichnet? Eine Kultur, in der Werte wie Glück, Verbindung zur Natur und ein erfülltes Leben im Vordergrund stehen, wird keine großen Bauwerke anlegen, weil sie nur so viel wie nötig arbeitet. Macht und Herrschaft passen nicht zu ihr, denn sie erzeugen mehr Beherrschte als Herrscher und mindern das Gesamtglück. Eine zukünftige Hochkultur wird man an ihrer äußerli­chen Unscheinbarkeit erkennen, weil ihre Werte immateriell sind.

Peter Strauß Screenshot: vimeo

Ich gehe davon aus, dass wir langfristig ein nahezu ideales Gesell­schaftssystem erreichen können. In einem solchen Gemeinwesen werden Ausbeutung, Unter­drückung, Egoismus, Machtmissbrauch, Kor­ruption, Gewalt und Ungerechtigkeit nur noch Randerscheinungen sein. Bis dahin werden aber noch Jahrhunderte vergehen.

Trotzdem ist dieses Ziel erreichbar, denn Freiheit ist der natürliche Zustand des Menschen. In unserer ursprünglichen, steinzeitlichen Lebensweise hatten wir über Jahrmillionen diese Freiheit. Unsere Unmündigkeit beruht auf unserer rasanten Entwicklung während der letzten Jahrhunderte.

Bei dem Wort Anarchie denken die meisten Menschen an Chaos und Zerstörung, aber nicht an eine bessere Welt. Das Wort bedeutet im ursprünglichen Sinne Herr­schafts­losigkeit, also einen Zustand, der keine Herrschaft braucht. Anarchie ist der Grad höchster Organisation, weil jeder Mensch die Bedeutung gesellschaftlicher Ordnung verstanden hat und im Sinne der ge­mein­samen Ziele handelt.

Auch heute schon sind Menschen in vielen Lebensbereichen in der Lage, sich selbst zu organisieren. Fußball-Freun­deskreise treffen sich regelmäßig zu Spielen, andere Freundeskreise organisieren gemeinsame Reisen oder Treffen und verfolgen gemeinsame Ziele, ohne dass es einen Anführer gibt. Die gemeinsamen Interessen definieren das gemeinsame Ziel. Innerhalb solcher Gruppen zählen Statussymbole wenig. Meist gibt es kaum Privile­gien für Einzelne oder nur dann, wenn sie von allen getragen werden, wie beispiels­weise die Rücksichtnahme auf persönliche Schwächen. Das ist heute schon gelebte Anarchie.

In der Vergangenheit gab es zeitweise anarchistische Gesellschaften, beispielsweise in Nordspanien während des Bürgerkriegs von 1936 bis 1939. Diese Experimente des neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts funktionierten kurzzei­tig gut, konnten sich aber nicht halten oder durchsetzen, weil die Zeit noch nicht reif und die Gesellschaft nicht von diesen Gedanken durchdrungen war. Es gab zu viele Gegner, die diese politischen Versuche mit Gewalt beendeten.

Wäre es nicht sinnvoll, dieser Frage in einem eng umgrenzten Rahmen weiter nachzugehen? Was würde die Menschheit verlieren, wenn Schottland, das Saarland oder Kuba ein solches System für ein Jahrzehnt unter wissenschaftlicher Begleitung tes­ten würde? Eine Antwort ist: Macht! Die meisten Menschen würden wenig verlie­ren, aber die Machthaber ihre Macht. Des­halb stehen einem solchen Versuch starke Kräfte entgegen.

Peter Strauß

Der globalmagazin-Kolumnist schrieb u. a. das Buch . HIer finden Sie eine Rezension von Ende offen – Der Weg des Menschen aus der Steinzeit in die Zukunft“.

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