Hat Naturschutz ein Problem mit falschen Zahlen?
Hat Naturschutz ein Problem mit falschen Zahlen?
nzz.ch: Jeden Tag verschwinden 150 Arten, oder die Lebensräume von Indigenen beherbergen 80 Prozent der biologischen Vielfalt. Das tönt beeindruckend. Doch solche Statistiken sind oft irreführend, manchmal sogar falsch.
Sie sind die Hüter der Natur: 80 Prozent der Biodiversität der Erde befinden sich in Gebieten von Indigenen. Diese Zahl las man in den letzten zehn Jahren überall: In Uno-Berichten, auf Websites von Umweltschutzorganisationen oder von Ministerien, ja sogar auf Protestbannern.
Doch als der Biologe Álvaro Fernández-Llamazares von der Autonomen Universität in Barcelona die Quelle dieser 80 Prozent prüfen wollte, fand er: nichts. Keine Daten, keine Berechnung. Nichts ausser zwei Berichten der Uno und der Weltbank, aus denen die Zahl immer wieder zitiert wurde. «Es gab Policy-Berichte, die sie benutzten. Es gab wissenschaftliche Berichte. Sie wurde in mehr als 180 wissenschaftlichen Publikationen zitiert», sagt Fernández-Llamazares. Fünf weitere Jahre suchte er mit Kolleginnen und Kollegen nach einer Quelle – vergebens.
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Jetzt haben sie im Fachmagazin «Nature» einen Bericht veröffentlicht, der zwar betont, wie wichtig Indigene für den Schutz der Natur seien, aber dass die 80 Prozent «haltlose Statistik» seien. Allein die Idee, dass man die Biodiversität «in zählbare Einheiten zerlegen und diese weltweit kartieren kann», sei abwegig. Immerhin gibt es Millionen unbekannte Arten. Er werfe niemandem vor, die Zahl verwendet zu haben, sagt Fernández-Llamazares. Es gehe um etwas anderes: «Was wir infrage stellen, ist: Wie kann es sein, dass diese Zahl für so viele Jahre nicht hinterfragt wurde?»
Hat die Biodiversitätsforschung ein Problem mit unzuverlässigen oder gar haltlosen Zahlen, mehr als andere Wissenschaften? Die Erforschung der Natur ist heute von Statistik getrieben. Zwar entwickelte bereits Alexander von Humboldt im 19. Jahrhundert die «botanische Arithmetik», um die Pflanzendecke der Welt mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen zu erschliessen. Aber seit es möglich ist, mit Satelliten die Vegetation der Erde zu scannen und Tiere mit Kameras, Mikrofonen und KI zu erkennen, schreitet die Digitalisierung der Natur in grossen Schritten voran.
Mit der Uno-Biodiversitätskonvention von 1992 verpflichten sich Staaten, Naturzustandsberichte vorzulegen. Im jüngsten Bericht der Schweiz ist von der «Vielfalt der Tagfalter-Artengemeinschaften» über die «Anzahl Durchgangshindernisse bei der Wanderung von Fischen» bis hin zur «Änderung der Gehölzdeckung in Hochmooren» alles in Zahlen erfasst, was in der Schweiz wächst und lebt. Und natürlich ist auch das wichtigste politische Biodiversitätsziel der Vereinten Nationen eine Zahl: «30 by 30» – bis 2030 sollen 30 Prozent der Erdoberfläche unter Naturschutz gestellt werden. Das ist die eine Seite.
Kritik kommt nicht immer gut an
Die andere Seite ist, dass sich immer wieder vielzitierte Zahlen als problematisch herausstellen. Dass zum Beispiel jeden Tag 150 Arten aussterben, ist ähnlich haltlos wie die fragwürdigen 80 Prozent. In der Ausgabe vom 14. Juli beschäftigte sich die «NZZ am Sonntag» mit den 26 Millionen Elefanten, die es einmal in Afrika gegeben haben soll. Wie sich gezeigt hat, ist diese Zahl aber wohl eher das Resultat rudimentärer statistischer Modelle und stereotyper Vorstellungen Afrikas (die Datenplattform «Our World in Data» zog sie mittlerweile zurück).
Doch Kritik kommt nicht immer gut an. Fernández-Llamazares und seinen Kollegen wird mittlerweile gar «unethisches» Verhalten vorgeworfen, weil sie mit ihrer Kritik Bemühungen von Indigenen torpedieren würden, die mit den 80 Prozent politische Rechte einforderten. «Mongabay», ein in der Branche vielgelesenes Medium, verstieg sich gar in der Ansage, dass die 80 Prozent nicht falsch seien, lediglich «untererforscht».
«Wir sind in den eigenen Reihen nicht ehrlich mit uns selbst», sagt Matthias Glaubrecht vom Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels in Hamburg, ein führender Forscher auf dem Gebiet: «Biologie ist eine ‹schmutzige Wissenschaft›, sozusagen: Zahlen sind hier eine Hilfskonstruktion, um einen Casus zu belegen, aber immer mit einem grossen Fragezeichen versehen.»
Über eine Art wissen wir gut Bescheid: den Menschen. Er hat sich stark vermehrt und das statistisch akribisch dokumentiert. Auch seine Nutztiere sind durchgezählt. Schwierig wird es bei den wilden Tieren. Wie viele Zackenbarsche gibt es? Wie viele Schuppentiere?
Genau das versucht der Living-Planet-Index (LPI) zu ermitteln, heute einer der wichtigsten Biodiversitäts-Indikatoren. Alle zwei Jahre publiziert der WWF zusammen mit der Zoologischen Gesellschaft von London (ZSL) ein Update, wie sich Wirbeltier-Populationen verändert haben. Vergangene Woche war es wieder so weit.
«Die Zahlen waren irgendwann verstörend»
Seit 1970 ist laut dem LPI die Zahl der Populationen im Schnitt um 73 Prozent geschrumpft. 56 Prozent sind es in den Meeren, 69 Prozent auf dem Land und 85 Prozent im Süsswasser. Am schlimmsten trifft es Lateinamerika und die Karibik mit einem Rückgang von 95 Prozent. Die Kurven haben eine gewisse Überzeugungskraft. Sie sind ummantelt von einer statistischen Unsicherheit von plus/minus 5 Prozentpunkten, in denen die Zahl schwanken kann. Das wirkt sehr präzise.
Nur sind die Zahlen für Laien nicht ganz einfach zu interpretieren. Ja selbst Profis legen sie oft falsch aus. 73 Prozent Rückgang heisst nicht, dass von 100 Tieren noch 27 da sind, sondern dass alle Populationen unterschiedlichster Grösse im Schnitt um 73 Prozent zurückgegangen sind. Eine kleine Population verändert den Schnitt genauso wie eine grosse. Über die Anzahl Tiere, die am Ende noch das sind, sagt die Zahl nichts aus.
«Die Zahlen waren irgendwann so verstörend, dass wir und andere Wissenschafter entschieden haben, die globalen Trends mit eigenen Berechnungen zu überprüfen, aber auf Basis der gleichen Daten wie der LPI», erklärt Anna Toszögyova, Biologin an der Karls-Universität in Prag. Im Juni 2024 veröffentlichte sie mit zwei Kollegen in «Nature Communications» ihre eigene Berechnung des LPI – und kam zum Teil auf völlig andere Trends… weiterlesen