Schicksalswahl für Amazonien

Schicksalswahl für Amazonien
Foto: IBAMA-wiki (ccby20)

Schicksalswahl für Amazonien

Von Norbert Suchanek, Rio de Janeiro

Das weltgrößte Regenwaldgebiet benötigt eine Null-Abholzungspolitik. Davon war auch Lula da Silva während seiner Regierungszeit weit entfernt

Im Amazonasbecken findet sich der größte verbliebene Regenwald der Erde. Er erstreckt sich über neun Länder. Der Umgang mit dem Regenwald hat daher Auswirkungen auf das Weltklima insgesamt. »Die Wahl in Brasilien sollte uns nicht kaltlassen«, schreibt Klimaforscher Niklas Höhne von der Wageningen-Universität in den Niederlanden. »Von der nächsten Regierung hängt es ab, ob der Amazonas in seiner jetzigen Form erhalten bleiben kann oder nicht.« Unter Präsident Jair Bolsonaro habe die Abholzung einen neuen historischen Höchststand erreicht. »Das widerspricht vollkommen dem von Brasilien unter dem Pariser Klimaschutzabkommen eingereichten Ziel, die Abholzung auf ein Minimum einzudämmen«, so Höhne. Eine weitere Vernichtung der Wälder könnte das Weltklima nachhaltig verändern.

Das sieht Rachael Garrett, Professorin für Umweltpolitik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, ähnlich: »Es gibt immer mehr Belege dafür, dass die von der Regierung Bolsonaro vorgenommenen politischen Änderungen zu einer beschleunigten Abholzung und Degradierung sowie zu zunehmender Gewalt und Menschenrechtsverletzungen im Amazonasgebiet geführt haben«, analysiert sie. Seit der Wahl Bolsonaros im Jahr 2019 sei die Abholzung im Vergleich zu den vorangegangenen fünf Jahren um 70 Prozent gestiegen. Allein in den ersten drei Jahren seiner Amtszeit sind nach offiziellen Zahlen des brasilianischen Weltraumforschungsinstituts INPE über 34 000 Quadratkilometer tropischen Regenwalds in der Amazonasregion gerodet worden, was etwa der Fläche Nordrhein-Westfalens entspricht.

Umweltexperten würden eine Wiederwahl des Amtschefs natürlich kritisch sehen. Doch was ist mit seinem Kontrahenten? Nach der Aussage des Klimaforschers Philip M. Fearnside vom Nationalen Amazonasforschungsinstitut in Manaus räume Lula da Silva der Umwelt in seinem Regierungsprogramm viel mehr Raum ein als Bolsonaro, auch wolle der Politiker der Arbeiterpartei die staatlichen Institutionen wie die Umweltbehörde Ibama und die Indianerbehörde Funai wieder stärken, die seit Beginn der Bolsonaro-Regierung geschwächt wurden. »Trotz dieser positiven Anzeichen«, so Fearnside, könne man aber auch einer möglichen Lula-Regierung nicht blind vertrauen.

Während seiner eigenen Amtszeit und der seiner Parteikollegin Dilma Rousseff wurden die ökologisch katastrophalen Amazonas-Wasserkraftwerke Santo Antônio und Jirau am Rio Madeira sowie Belo Monte am Rio Xingu gebaut. »Die Forschung zeigt, dass die Wasserkraftwerke im Amazonas enorme potenzielle Folgen haben können, einschließlich der Vertreibung von Bevölkerungsgruppen in den überschwemmten Gebieten, der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, der Vernichtung der Fischerei sowohl stromabwärts als auch stromaufwärts der Dämme und der von den Stauseen freigesetzten Emissionen des starken Treibhausgases Methan«, erläutert Fearnside.

Während seines Wahlkampfes sagte Lula, er würde Wasserkraftwerke wie Belo Monte jederzeit wieder bauen. Ebenso bekannte er sich zur Fertigstellung des umstrittenen Amazonas-Highways BR-319 von Porto Velho im Südwesten Amazoniens nach Manaus. Zusammen mit geplanten Nebenstraßen würde das Projekt Holzfällern den Zugang zu einem riesigen Gebiet erleichtern, so Fearnside. Dies könnte der Anfang vom Ende für den größten noch intakten Regenwaldblock im Herzen Amazoniens sein.

Auch in Bezug auf die Entwaldung waren die Zeiten unter der Regierung Lula 2003 bis 2008 nicht so rosig, wie es heute oft von Umweltschützern wahrscheinlich wahlkampfbedingt dargestellt wird. In den ersten drei Jahren seiner Regierung gab es mit die höchsten Abholzungsraten in der Geschichte Amazoniens. Allein 2003 fielen 25 396 Quadratkilometer Wald Brandrodung und Kettensägen zum Opfer.

Die Abholzungsrate ging in der zweiten Amtsperiode Lulas und vor allem unter Dilma Rousseff bis auf 5012 Quadratkilometer pro Jahr zurück, doch stieg sie ab 2015 wieder stetig an. Abholzungen und Landvertreibungen für den Sojaanbau verschoben sich dafür nach Osten in die Cerrado-Regionen von Maranhão, Tocantins, Piauí und Bahia.

Kein Zweifel: Von Bolsonaro gab es absolut kein Zeichen für eine Null-Abholzungspolitik, die Brasilien und auch das Weltklima benötigen. Unter einem neuen Präsident Lula bestünde wenigstens etwas Hoffnung für den Regenwald.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Die Erstveröffentlichung erfolgte in „nd-aktuell“ vom 28.10.2022


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Norbert Suchanek ist Umwelt- und Wissenschaftsjournalist. Er wurde 1963 in Würzburg geboren. Zu Beginn seiner Karriere, in den 1980er und 1990er Jahren recherchierte er vor allem in Konfliktregionen wie Nordirland und Palästina. Später verlagerte er seinen Fokus auf Brasilien. Seit 2006 arbeitet er als freier Korrespondent in Rio de Janeiro. 2010 rief er zusammen mit Márcia das Internationale Uranium Film Festival ins Leben. Damals war der Atomunfall von Tschernobyl fast vergessen. Und die brasilianische Regierung hat mit dem Bau des dritten Atomkraftwerks und eines Atom-U-Bootes in Rio de Janeiro begonnen. 

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